Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
Vom Netzwerk:
zusammengeknüllt auf einem hochkant gestellten Sessel. Ein Porträt ist von seinem Haken gestoßen worden. Es hängt schief, und der erstaunte Dargestellte taumelt über einer Kommode, der Gips-rahmen ist angeschlagen und verkratzt.
    In der Ecke gegenüber steht eine Tür offen. Die hat sie neulich bei ihrem Rundgang mit Tom Gordhavo gar nicht bemerkt. Sie ist nicht aus Holz, sondern mit der gleichen Tapete bezogen, die die Wände ziert, und hat eine Klinke aus Glas. Der Raum dahinter gähnt pechschwarz. Das ist irgendeine Art von Schrank, der in die dicke Außenmauer des Hauses eingebaut ist. Sie geht hinüber und späht hinein.
    Schwarz. Muffig. Darin möchte man nichts aufbewahren, weil es vermodern könnte. Das ist jene Art von Schrank, in welchen sie in frühen viktorianischen Romanen Kinder eingesperrt haben. Ich wette, darin wimmelt es von Spinnen.
    Sie schließt die Tür. Jetzt, da sie genauer hinsieht, bemerkt sie, dass sich daran oben und unten Riegel befinden. Sie zuckt mit den Schultern, schiebt sie zu und dreht sich um, um das Chaos zu betrachten.
    Was mache ich hier bloß? Eigentlich kann ich gar nichts tun, außer vielleicht diese Vase wegräumen. Ich werde das Zimmer Mr Gordhavo zeigen müssen, bevor ich irgendetwas anrühre, sonst macht er am Ende mich für den Schaden verantwortlich.
    Sie hört vor der Tür das Getrippel huschender Füße. Irgendjemand – jemand, der klein und leicht ist – rennt den Korridor entlang. Bridget wirft einen Blick auf ihre Uhr und ist überrascht, dass schon fast eine Stunde vergangen ist, seit sie aufgestanden ist. Yasmin muss aufgewacht sein und die Wohnung auf der Suche nach ihr verlassen haben.
    »Bist du das, Darling?«, ruft sie.
    Das Trippeln stoppt. Stille.
    »Yasmin? Ich bin hier. In dem großen Zimmer.«
    Stille. Yasmin lauscht bestimmt. Bridget spürt, dass sie lauscht. Es passt so gar nicht zu ihr, dass sie nichts sagt. Yasmin ist eine Quasselstrippe.
    »Yasmin?«
    Sie geht auf die Tür zu und bleibt unmittelbar davor stehen. Irgendetwas hält sie davon ab, hindurchzugehen. Sie lauscht. Da draußen ist es still. Keine Bewegung, kein Rascheln. Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein. »Yasmin?«
    Jemand kichert.
    Bridget springt mit gespreizten Fingern wie ein angreifender Löwe durch die Tür, tritt auf den Teppich.
    »Buh!«, macht sie.
    Der Korridor ist leer.

14
    Ich kann es nicht fassen. Ich kann es einfach nicht fassen. Ich – ich fühle mich überrannt. Dafür gibt es kein anderes Wort. Überrannt. Mein Haus wird nie mehr einen sauberen Eindruck machen. Es ist, als hätte sie den Krieg mitgebracht. Das Haus könnte genauso gut voller Nazis sein. Schlimmer noch. Ein Nazi hätte zumindest so viel Selbstrespekt, dass er sich schämen würde. Die da – mein Gott, ich öffne mein Haus, und mir wird es in gar keiner Weise gedankt. Nicht den geringsten Anflug von Verlegenheit.
    Weiß Gott, was sie noch alles mit hierher gebracht hat. Die Syphilis, wahrscheinlich, und die Schwindsucht. Ich kann es nicht fassen, dass ich tatsächlich das Kind einer Prostituierten unter meinem Dach beherberge. Wir werden alle an namenlosen Krankheiten zugrunde gehen, die von den Docks von Portsmouth hier eingeschleppt wurden. In der Schule von Meneglos hat es noch nie Läuse gegeben. Nie. Wir werden zur Zielscheibe des Gespötts werden.
    »Widerlich«, sagt sie laut. »Du bist widerlich.«
    Lily Rickett, die Haare zerzaust und von ihrem Kopf abstehend wie ein Vogelnest, funkelt sie von der anderen Seite der Spülküche wütend an. Ihre Wangen sind gerötet, doch trotz der seit zehn Minuten andauernden Quälerei ist nicht die kleinste Träne zu entdecken. Lily weint nicht. Hat nicht mehr geweint, seit sie fünf Jahre alt war. Die Heulerei bringt einem gar nichts ein, hat sie herausgefunden, außer zumeist eine Ohrfeige. »Hör auf damit«, sagt sie.
    »Komm her.«
    »Nein.«
    »Komm hierher, Lily.«
    »Nein. Du kommst mit diesem Ding nicht in meine Nähe.« Felicity Blakemore starrt auf den Nissenkamm hinab, um dessen Metallzinken ein Knäuel ausgerissener Haare gewickelt ist. Sie sehen aus wie der Pelz eines wilden Tieres. In Wahrheit sehen sie genau so aus wie etwas, was vom Kopf dieses verwahrlosten Kindes stammen könnte. Wie schaffen es Leute heutzutage bloß, ihre Kinder so verwildert aufwachsen zu lassen? Sie hat gar nicht bemerkt, dass sie den Kamm so fest umklammert, dass ihre Handfläche von den Abdrücken zweier Dutzend scharfer kleiner Nadelstiche gezeichnet

Weitere Kostenlose Bücher