Das Haus der verlorenen Kinder
ist.
»Komm schon«, sagt sie. »Das ist ja alles deine Schuld. Hättest du keine Läuse in dieses Haus eingeschleppt …«
»Wenn du noch einen Schritt näher kommst, beiße ich dich«, sagt Lily.
»Sei nicht albern.«
»Ich meine es ernst.«
»Das muss getan werden. Du kannst nicht den Rest deines Lebens so herumlaufen. Deinetwegen habe ich das schon bei den anderen machen müssen.«
»Na ja«, antwortet Lily, »ich wette, bei denen hast du nicht versucht, ihnen die Haare auszureißen.«
Sie spürt, dass sie immer wütender wird. »Na ja, die haben ja auch nicht ihre – ihre Parasiten – an alle anderen weitergegeben.«
»Woher weißt du das? Warum gibst du mir die Schuld? Könnte ja auch einer von denen gewesen sein. Ich bin nicht das einzige Kind im Haus, das weißt du. Könnte ja eines von deinen tollen Kindern gewesen sein.«
»Sei nicht albern.«
»Was?«
Es entsteht eine Pause, in der sie sich wütend anfunkeln. Mit solch unverhohlener Frechheit konfrontiert, muss Felicity Blakemore an sich halten, um ihre gute Kinderstube nicht zu vergessen. Sie muss warten und die Zähne zusammenbeißen, bis sie ihre Stimme wieder so weit unter Kontrolle hat, dass sie weitersprechen kann.
»Die anderen kommen vielleicht nicht aus der allerbesten Gesellschaftsschicht«, sagt sie, »aber es ist ganz offensichtlich, dass es hier nur eine gibt, die weder Seife noch Waschlappen kennt. Jetzt komm her. Je schneller du kommst, desto schneller hast du es hinter dir.«
Lily verschränkt die Arme und schaut sie herausfordernd an. »Nein.«
»Wenn du nicht freiwillig kommst, muss ich dich zwingen.«
»Das möchte ich sehen.«
»Na, schön«, schnauzt sie. Schiebt den oberen Riegel der Tür zum Garten zu, der außerhalb der Reichweite des Kindes ist. Lily macht einen Satz in Richtung Küchentür, aber zu spät. Felicity Blakemore hält ihren dürren Arm mit stählernem Griff fest, dreht sie herum und ruft: »Hugh! Hughie, komm doch mal!«
Lily fuchtelt und tritt vergeblich nach ihrer Gefängniswärterin. »Lass los! Lass los, lass los!«
Die Tür wird aufgestoßen, und Hugh erscheint. »Hallo!«, sagt er. Er ist fünf Jahre älter als Lily und beinahe doppelt so groß. Die Ernährung mit Pommes frites und Essensresten ist dafür verantwortlich, dass Lily im Vergleich zu ihren Altersgenossen klein und blass ist.
»Halt dieses Kind fest«, befiehlt ihm seine Mutter.
»Aber gern«, antwortet der Sohn. Er ist jederzeit für eine kleine Rauferei zu haben. Das war schon immer so. Schon in der Grundschule stand er in dem Ruf, ein Rowdy zu sein, was ihm letztes Jahr sehr zugute kam, als er nach Eton wechselte. Er steht da, die fleischigen Hände in die untersetzten Hüften gestemmt, und mustert den Hausgast. »Macht sie Schwierigkeiten?«
»Offenkundig wähnt sie sich über den Nissenkamm erhaben.«
»Klar«, sagt Hugh. »Das kriegen wir schon hin.«
»Bitte«, fleht Lily, ein bisschen zu spät. »Das tut weh.« – »Na ja«, antwortet Mrs Blakemore, »vielleicht hättest du daran denken sollen, bevor du Läuse in dieses Haus eingeschleppt hast.«
Selbst Hugh kann erkennen, wie unlogisch diese Feststellung ist. Aber er ist in einem Alter, in dem die Dummheit von Erwachsenen für ihn eher nützlich als verachtenswert ist, und so verzichtet er darauf, sie zu kommentieren. »Es gibt ja eine Alternative, wenn sie sich die Haare nicht kämmen lassen will«, sagt er zu seiner Mutter.
Es dauert einen Augenblick, bis Lily die Feststellung verarbeitet hat, dann stürzt sie in Richtung der Tür, die ins Freie führt. Sie springt, um an den Riegel zu kommen, es misslingt ihr, sie springt wieder, dann dreht sie sich mit gebleckten Zähnen um und presst sich mit dem Rücken gegen die Wand. Wie eine in die Ecke gedrängte Ratte, denkt Mrs Blakemore. In den Stallungen, wenn wir die Terrier auf sie hetzen.
Hugh durchquert mit zwei Schritten den Raum und stürzt sich auf das Mädchen wie ein Frettchen auf ein Kaninchen. Lily fällt zur Seite gegen die Spüle, kickt mit den nackten Füßen um sich, brüllt wie ein wütender Affe. Sie verteidigt sich so wild, dass sie seinem Griff – beinahe – entkommt. Aber dann, er ist inzwischen auf Hundertachtzig, packt er fester zu. Er hat jede Menge Übung – mit seiner Schwester, den Jungen aus dem Dorf, den jüngeren Schülern im Internat –, und er genießt den Kampf. Genießt die körperliche Konfrontation mehr als alles andere auf der Welt, aber das würde er nie im Leben zugeben. Sie
Weitere Kostenlose Bücher