Das Haus der verlorenen Kinder
gerufen wurden, in dem die Bedrohung längst nicht mehr bestand. Das allmähliche Abrutschen auf der Prioritätenliste von fünf Minuten, auf zehn, dann auf zwanzig. Und der Blick. Aufmerksamkeitssüchtige. Zeitverschwenderin.
Ich kann es mir nicht leisten, die Polizei zu rufen. Nur wenn ich weiß, dass da wirklich jemand ist. Ich darf nicht als die Hysterische von Meneglos gelten, die aus der Großstadt hierher gezogen ist und wegen ein bisschen Stille und Land-ruhe gleich in Panik gerät. Wenn ich Aufmerksamkeit errege, dann muss ich erklären …
Sie geht weiter. Schiebt sich mit dem Rücken an der Wand entlang und arbeitet sich vor. Lauscht. Fühlt, dass das Haus nach ihr lauscht.
Ach, Yasmin, ich habe Angst. Es tut mir so leid, mein Baby. So leid.
Leichte Gewebeverletzung. Ein so harmloser Ausdruck für so große Schmerzen. Schlaflose Nächte, weil die Schwellung so stark war, dass ich keine Position finden konnte, bei der es nicht wehtat. Wie ich da neben ihm liege, ihn atmen höre und mir wünsche, er wäre tot. Ich fahre mir mit der Zunge im Mund herum und untersuche das Loch, die frische Zahnlücke. Nicht weinen, auf keinen Fall weinen, weil Salz auf den Wunden nur noch mehr wehtut. Und weil er Tränen als Vorwurf betrachtet und Vorwürfe ihn wütend machen.
Schau mich nicht so an. Verdammt, schau mich nicht so an. Ich hab gesagt, dass es mir leid tut, oder etwa nicht? Was verlangst du denn von mir? Was erwartest du?
Sie kommt an der offen stehenden Tür zum grünen Zimmer an. Im Raum dahinter ist nichts zu sehen. Sie bemerkt, dass sie zittert.
Warum? Warum bin ich so ängstlich? Ich habe überlebt. Ich habe Kieran überlebt. Und ich werde weiter überleben. Er kriegt mich nicht. Es ist nur irgendeine Besonderheit mit der Elektrik, eine Zeitschaltuhr, oder es hat etwas mit den dummen Leitungen zu tun.
Bridget nimmt ihren ganzen Mut zusammen, springt auf die dunkle Höhle zu. Packt den Türgriff und zieht die Tür ins Schloss. So. Wenn er jetzt hinter mir herkommt, dann höre ich ihn.
Die Tür zum rosa Zimmer ist geschlossen. Sie tastet nach der Klinke, vergewissert sich, dass der Riegel eingehakt ist, geht weiter.
Das mittlere Zimmer. Ich muss es durchqueren. Hier gibt es mögliche Verstecke, Stellen, hinter die ich nicht sehen kann.
Wie sie im Schlafzimmer auf dem Boden liegt und ihn anfleht, endlich aufzuhören. Die Art und Weise, wie die Zeit sich verlangsamte und nur noch dahinkroch, während ich sah, wie er mit dem Fuß ausholte, und ich mich zusammenrollte, um mein Gesicht zu schützen.
Sie ist noch so klein. Sie hat schon genug erlebt. Sie braucht mich.
Plötzlich fällt es ihr ein: In der Ecke, da hat sie ihn gesehen. Einen Griff, versteckt zwischen dem Schrank und der Wand. Der sah wie der Griff einer Axt aus. Keine Ahnung, warum sie da ist. Wahrscheinlich steckt sie da schon seit Jahrzehnten.
Jedenfalls besser als nichts.
Sie geht so schnell wie möglich, ohne Geräusche zu machen, durchs Zimmer, schiebt die Hand in die Spalte. Tastet zwischen den Staubknäueln, bis ihre Hand das beruhigend warme Holz umfasst.
Es klappert, als sie es herauszieht, sie fährt herum und blickt in den Raum.
Keiner da.
Ihre Bewaffnung kann sie nicht beruhigen. Wenn man sich bewaffnet, wird die Gefahr konkreter. Die Anspannung löst bei ihr Übelkeit aus. Sie muss mehrere Male schlucken, als sie in den Korridor hinaustritt, die Tür zu ihrer Linken schließt, dann die zu ihrer Rechten und weiter auf das Licht zusteuert.
Kann ich ihn hören? Ist er da?
Sie bleibt vor dem Türsturz stehen. Spitzt die Ohren, ob irgendetwas sich bewegt, hört nichts, bis auf das Pochen ihres eigenen Pulses.
Ich muss gehen. Ich muss da hinein.
Bridget tritt einen Schritt vor.
Das Zimmer ist leer. Die Lampe liegt umgekippt vor dem Nachttischchen auf dem Boden. Sie schaukelt hin und her, als habe eine Brise sie erfasst.
29
Neues Jahr, neue Klienten.
Für Steve Holden ist das eine ertragreiche Woche. Der Januar bringt immer viel Arbeit mit sich; die Kombination aus Weihnachtsstreitigkeiten und Neujahrsvorsätzen. Frauen, die ihren Alten in Verdacht haben, fremdzugehen. Männer, deren Geschäftspartner die Firmenkonten geplündert und sich mit dem Geld aus dem Staub gemacht haben. Adoptierte, die das Interesse an ihren Adoptivfamilien verloren haben und jetzt der Meinung sind, der Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter, die sich nicht um sie kümmern wollte, als sie ein Baby waren, könnte sich als erfreulich erweisen. Sie
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