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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Schultern gezuckt hatte. Oder auf Mrs. Griffin, weil sie ihm nicht geglaubt hatte.
    Oder auf sich selbst, weil er vor Illusionen Angst hatte. Oder vielleicht auf sie alle drei.
    »Ich gehe nach oben in mein Zimmer und ziehe mich um«, sagte er und verließ die Küche.
    Auf dem halben Treppenabsatz entdeckte er Lulu, die aus dem Fenster starrte. Der Wind drückte in Böen gegen das Glas, 65

    und Harvey fiel wieder der erste Besuch von Rictus ein. Aber diesmal brachten die Böen keinen Regen mit sich, sondern Pulverschnee.
    »Bald ist Weihnachten«, sagte sie.
    »Tatsächlich?«
    »Es wird für jeden Geschenke geben. Das ist immer so. Du solltest dir etwas wünschen.«
    »Machst du das gerade?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich bin schon so lange hier, daß ich alles bekommen habe, was ich je wollte.
    Möchtest du’s mal sehen?«
    Harvey bejahte, und so führte sie ihn die Treppe hinauf in ihr Zimmer, in einen riesigen Raum voller Schätze.
    Man konnte deutlich sehen, daß sie eine Vorliebe für Schachteln hatte. Da gab es winzige, juwelenverzierte Schachteln und große, geschnitzte. Eine Schachtel für ihre Sammlung von Glaskugeln, eine Spieldose und eine, in die ein halbes Hundert kleinerer Schachteln paßte.
    Dazu besaß sie mehrere Puppenfamilien, die mit leeren Gesichtern in Reih und Glied ringsum an den Wänden saßen.
    Aber am eindrucksvollsten von allem war das Haus, aus dem man die Puppen verbannt hatte. Es stand mitten im Zimmer, war anderthalb Meter hoch und bis ins kleinste Detail perfekt ausgearbeitet, jeder Ziegel, jede Schieferplatte, jedes Gesims.
    »Hier bewahre ich meine Freunde auf«, sagte Lulu und öffnete die Vordertür.
    Zwei leuchtend grüne Eidechsen huschten zu ihrer Begrüßung heraus und trippelten eilends ihre Arme hinauf bis zu den Schultern.
    »Die anderen sind drinnen«, sagte sie. »Wirf ruhig mal einen Blick hinein.«
    Harvey lugte durch die Fenster und entdeckte, daß sämtliche Zimmer im Haus perfekt ausgestattet und alle belegt waren.
    Einige Eidechsen lungerten auf den Betten herum, manche 66

    dösten in den Badewannen vor sich hin, und wieder andere turnten an den Kronleuchtern herum. Sie waren so drollig, daß er laut lachen mußte.
    »Sind sie nicht komisch?« fragte Lulu.
    »Toll!« antwortete er.
    »Wenn du willst, kannst du immer heraufkommen und mit ihnen spielen.«
    »Danke.«
    »Sie sind wirklich ganz lieb und beißen nur, wenn sie Hunger haben. Da –«
    Sie zupfte eine von ihrer Schulter und ließ sie in Harveys Hand fallen. Sofort sauste die Eidechse hoch und setzte sich auf seinen Kopf. Lulu amüsierte sich köstlich darüber.
    Eine ganze Zeit lang spielten sie gemeinsam hingebungsvoll mit den Eidechsen. Plötzlich sah Harvey sein Spiegelbild in einem der Fenster, und ihm fiel wieder ein, wie fürchterlich er noch aussah.
    »Besser, ich geh’ mich mal waschen«, erklärte er. »Bis später.«
    Sie lächelte ihn an und sagte: »Harvey Swick, ich mag dich.«
    Ihre offene Art gefiel ihm. »Ich dich auch«, erklärte er, aber dann verfinsterte sich seine Miene, und er meinte: »Ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.«
    Sie schaute verdutzt.
    »Ich habe dich am See beobachtet«, sagte er.
    »Wirklich?« erwiderte sie. »Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Na, egal, jedenfalls ist er ganz schön tief, und du solltest vorsichtig sein. Du könntest ausrutschen und hineinfallen.«
    »Ich werde aufpassen«, versprach sie, während er die Tür öffnete. »Ach, und Harvey –«
    »Ja?«
    »Vergiß nicht, dir etwas zu wünschen.«
    67

    W orum sollte ich bitten? überlegte er, während er sich den Schmutz vom Gesicht wusch. Vielleicht um etwas Unmögliches. Nur um zu prüfen, wie groß die Zauberkraft des Hauses wirklich war. Vielleicht um einen weißen Tiger. Oder einen echten Zeppelin in Originalgröße? Oder um eine Fahrkarte zum Mond?
    Die Antwort kam aus den tiefsten Schichten seines Gedächt-nisses. Er würde sich etwas wünschen, das er vor langer Zeit einmal bekommen (und dann verloren) hatte. Ein Geschenk, das sein Vater für ihn gebastelt hatte. Das würde Mr. Hood bestimmt nicht hinkriegen, und wenn er seinen Gästen noch so sehr jeden Wunsch erfüllen wollte.
    »Die Arche«, murmelte er.
    Mit frisch gewaschenem Gesicht lief er wieder nach unten.
    Seine Kratzer von der Dornenhecke trug er dabei stolz wie Kriegsverletzungen. Doch da mußte er feststellen, daß es das Haus wieder einmal geschafft hatte, sich vollkommen zu verwandeln. In der

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