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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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–, sondern die Küchentür, die seitwärts zum Haus hinaus führte.
    Obwohl sich der Wind gelegt hatte, war es noch immer bitterkalt und die Schneeoberfläche eine einzige Eisbahn. Mit jedem Schritt brach er ein, auch wenn er den Fuß noch so vorsichtig aufsetzte. Trotzdem hoffte er allmählich, daß das Haus zu dieser Stunde tatsächlich Augen und Ohren geschlossen hatte – wenn nicht, warum hatte es ihn dann nicht aufgehalten? – und er die Grenze erreichen könnte, ohne aufzufallen.
    Aber gerade als er um die Ecke biegen wollte, wurde seine zaghafte Hoffnung zerstört. Aus dem Dunkel hinter ihm rief jemand seinen Namen. Wie angewurzelt blieb er stehen und hoffte, die Dunkelheit würde ihn verbergen. Aber da kam die Stimme wieder, und wieder rief sie seinen Namen. Es war keine Stimme, die er kannte. Auf keinen Fall Wendell, und auch nicht Mrs. Griffin. Weder Jive, noch Rictus, noch Marr.
    Es war eine gebrochene Stimme, die Stimme eines Wesens, das kaum in der Lage war, die Silben seines Namens zu formen.
    »Harrr … vvvey …«
    Doch da, urplötzlich, erkannte er die Stimme. Seit er aus dem Bett geschlichen war, hatte sein Herz rasend schnell geschlagen, aber jetzt dröhnte es ihm so laut in den Ohren, daß er den 108

    zweiten Ruf beinahe überhört hätte.
    »Lulu?« murmelte er.
    »Jjja …«, sagte die Stimme.
    »Wo bist du?«
    »In der Nähe …«, sagte sie.
    Er hoffte, wenigstens etwas von ihr zu sehen, und starrte ins Gestrüpp. Aber er sah nur das Licht der Sterne, das glitzernd auf den gefrorenen Blättern lag.
    »Du gehst fort«, sagte sie. Ihre Worte klangen undeutlich.
    »Ja«, flüsterte er, »und du mußt mit uns kommen.«
    Er machte einen Schritt auf sie zu, aber da wich etwas Glitzerndes, das er für Rauhreif gehalten hatte, vor ihm zurück.
    Welches Kleid konnte so schimmern?
    »Hab keine Angst«, sagte er.
    »Ich möchte nicht, daß du mich ansiehst«, sagte sie.
    »Stimmt irgend etwas nicht?«
    »Bitte«, sagte sie, »bleib … wo du bist …«
    Sie wich sogar noch ein Stück vor ihm zurück, verlor dabei offensichtlich das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
    Ringsherum zitterte das Gestrüpp. Harvey trat einen Schritt vor, um ihr aufzuhelfen, aber sie schluchzte so laut auf, daß er wie angewurzelt stehenblieb.
    »Ich will dir doch nur helfen«, sagte er.
    »Du kannst mir nicht helfen«, antwortete sie. Jedes Wort klang schmerzerfüllt. »Es ist zu spät. Aber du mußt … gehen
    … solange du noch kannst. Ich wollte dir … nur etwas geben
    … das dich an mich erinnert.«
    Er sah, wie sie sich im Schatten bewegte, und streckte die Hand nach ihr aus.
    »Schau weg«, sagte sie.
    Und er wandte sein Gesicht von ihr ab.
    »Jetzt schließe deine Augen und versprich, daß du sie nicht öffnest.«
    Pflichtschuldig schloß er die Augen. »Ich verspreche es«, 109

    sagte er.
    Jetzt hörte er, wie sie sich auf ihn zubewegte. Ihr Atem ging stoßweise.
    »Öffne deine Hand«, sagte sie.
    Ihre Stimme klang jetzt ganz nah. Er wußte, wenn er jetzt die Augen aufmachte, würde er ihr direkt ins Gesicht sehen. Aber er hatte versprochen, es nicht zu tun, und sein Versprechen wollte er unbedingt halten. Er streckte seine Hand aus und spürte, wie erst ein, dann zwei und schließlich drei kleine, kalte, nasse Gegenstände in seine hohle Hand fielen.
    »Das war alles … was ich finden konnte«, sagte Lulu, » …
    tut mir leid …«
    »Kann ich schauen?« fragte er.
    »Noch nicht. Laß mich … erst … gehen …«
    Er schloß seine Finger um die Geschenke, die sie ihm gebracht hatte, und versuchte, sie durch Tasten irgendwie zu erkennen. Was war das? Gefrorene Steinstücke? Nein, etwas Geschnitztes. An dem einen Stück konnte er Rillen spüren und an dem anderen einen Kopf. Natürlich. Jetzt wußte er, was er da in der Hand hielt: drei Überlebende seiner Arche, aus den Tiefen des Sees ans Licht geholt.
    Aber die Antwort beruhigte ihn nicht, im Gegenteil. Als er Lulus rätselhaftes, silbernes Leuchten und die Erkenntnis, was sie ihm da gegeben hatte, zusammenbrachte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Sie war zum Grund des Sees hinabge-taucht und hatte diese Figuren gerettet. Ein Abstieg, der für jeden Landbewohner außerhalb seiner Möglichkeiten lag.
    Kein Wunder, daß sie sich in den Schatten zurückgezogen und ihm befohlen hatte, sie nicht anzusehen. Sie war kein menschliches Wesen mehr. Sie wurde – oder war bereits – eine Schwester jener merkwürdigen Fische, die mit kaltem Blut und

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