Das Haus der verschwundenen Jahre
sagte Mrs. Griffin ganz verzweifelt über seine Hartnäckigkeit.
»Tot? Schwören Sie das?«
»Ich schwöre«, antwortete sie. »Beim Grab meines armen Naseweis schwöre ich, Mr. Hood ist tot. Und jetzt frage nie mehr nach ihm.«
Es war das erste Mal, daß Mrs. Griffin Harvey so etwas wie einen Befehl gegeben hatte. Eigentlich hätte er sie gerne weiter ausgefragt, aber dann ließ er es doch sein. Statt dessen sagte er, es täte ihm leid, daß er dieses Thema angesprochen hätte, und es würde nicht wieder vorkommen. Und dann überließ er sie ihrem geheimen Kummer.
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XII
Was das Wasser wieder freigab
und was es nahm
» N a?« rief Wendell, als Harvey in sein Zimmer kam. »Was hast du herausgefunden?«
Harvey zuckte mit den Schultern. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Warum gönnen wir uns nicht einfach ein bißchen Spaß, solange wir können?«
»Uns Spaß gönnen?« sagte Wendell. »Wie können wir uns Spaß gönnen, solange wir eingesperrt sind?«
»Aber hier drinnen haben wir’s doch besser als draußen in der Welt«, antwortete Harvey. Wendell sah ihn erstaunt an.
»Stimmt doch, oder?«
Dabei packte er Wendells Hand und hielt sie fest. Wendell spürte, daß Harvey eine Papierkugel in der Hand hielt, die er zwischen ihnen beiden auszutauschen versuchte.
»Vielleicht solltest du dir ein ruhiges Eckchen zum Lesen suchen«, meinte er, wobei seine Augen verstohlen zu ihren Händen hinunterwanderten.
Wendell hatte begriffen. Er schnappte sich den zusammengeknüllten Zettel aus Harveys Hand und sagte:
»Vielleicht sollte ich das wirklich tun.«
»Gut«, erwiderte Harvey. »Und ich werde rausgehen und die Sonne genießen, solange ich noch kann.«
Und genau das tat er dann auch. Bis Mitternacht gab’s noch eine Menge für ihn zu planen. Denn auf dem Zettel für Wendell stand, daß sie sich genau zu diesem Zeitpunkt treffen sollten, um zu fliehen. Schließlich mußten die Kräfte, die das Haus bewachten, ja auch ab und zu mal schlafen (die Ge-106
schichte mit den ständig wechselnden Jahreszeiten konnte nicht so einfach sein), und Mitternacht schien die vielversprechend-ste Stunde zum Entwischen zu sein.
Er nahm allerdings nicht an, daß es einfach sein würde. Seit Jahrzehnten war dieses Haus eine Falle – vielleicht sogar schon seit Jahrhunderten. Wer konnte sagen, wie alt das Böse darin wirklich war? Und selbst um Mitternacht würde es nicht so töricht sein, den Ausgang sperrangelweit offenstehen zu lassen.
Schnell und schlau würden sie handeln müssen. Und sobald sie einmal im Nebel wären, dürften sie nicht in Panik geraten oder die Geduld verlieren. Irgendwo da draußen war die echte Welt, und alles, was sie tun mußten, war, sie zu finden.
A ls er Wendell an Halloween sah, wußte er, daß er den Zettel gelesen und verstanden hatte. Da lag etwas in Wendells Blick, das sagte:
Ich bin bereit. Ich bin nervös, aber ich bin bereit.
Der Rest des Abends verging für die beiden wie die Aufführung eines merkwürdigen Theaterstücks, in dem sie die Schauspieler waren und das Haus – oder wer auch immer darin umging – das Publikum. Sie taten, als ob ihnen alles einen Riesenspaß machen würde und dies eine Nacht wie alle anderen wäre. Mit betont lautem Gelächter liefen sie ins Freie zum Leute-Erschrecken, obwohl sie beide eine Gänsehaut bekamen, wenn sie an ihre geborgten Schuhe dachten. Dann kamen sie herein, aßen und verbrachten, so hofften sie, ihren letzten Weihnachtsabend in diesem Haus. Sie packten ihre Geschenke aus – einen mechanischen Hund für Wendell und für Harvey einen Zauberkasten –, dann wünschten sie Mrs.
Griffin eine gute Nacht – eigentlich hätten sie ja »Auf Wiedersehen« sagen müssen, aber Harvey wagte es nicht, sie zur Mitwisserin zu machen – und gingen zu Bett.
Das Haus wurde still und immer stiller. Der Schnee auf dem 107
Fensterbrett hörte zu knirschen auf, und der Wind seufzte nicht mehr im Kamin. Für Harvey war es das tiefste Schweigen, das er je gehört hatte, so tief, daß ihm sein eigener Herzschlag in den Ohren dröhnte und jedes Rascheln seines Körpers in den Laken wie Trommelwirbel klang.
Kurz vor Mitternacht stand er auf und zog sich an. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, um so wenig Lärm wie möglich zu machen. Dann trat er in den Durchgang hinaus und lief wie ein Dieb, der von Schatten zu Schatten schleicht, eilends die Treppe hinunter und in die Nacht hinaus.
Er nahm nicht die Vordertür – sie war schwer und knarrte laut
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