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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Silberhaut ihre Kreise in den dunklen Wassern zogen.
    »Oh, Lulu«, sagte er, »wie konnte das passieren?«
    »Vergeude deine Zeit nicht mit mir«, murmelte sie, »sondern 110

    geh, solange du noch eine Chance hast.«
    »Aber ich möchte dir helfen«, sagte er.
    »Du kannst …«, kam die Antwort, » … kannst mir nicht helfen … Ich bin schon zu lange hier. Mein Leben ist vorbei
    …«
    »Das ist nicht wahr«, sagte Harvey. »Wir sind gleich alt.«
    »Aber ich bin schon so lange hier, daß ich mich nicht einmal erinnern kann …« Ihre Stimme verlor sich.
    »Woran kannst du dich nicht erinnern?«
    »Vielleicht will ich mich auch gar nicht mehr erinnern«, sagte sie. »Es tut viel zu weh …« Schwer und erstickt seufzte sie auf.
    »Du mußt gehen …«, sagte sie im Flüsterton, » … gehen, solange du noch kannst.«
    »Ich habe keine Angst.«
    »Dann bist du dumm «, sagte sie. »Denn Angst solltest du haben.«
    Er hörte, wie sich das Gestrüpp bewegte, während sie sich allmählich zurückzog.
    »Warte«, rief er. Sie gab keine Antwort. »Lulu!«
    Sie entfernte sich noch geräuschvoller. Es klang, als ob sie sich mit aller Kraft aus seiner Reichweite stürzen wollte. Da brach er sein Versprechen, riß die Augen auf und sah gerade noch, wie sie floh. Ein Schatten im Schatten, sonst nichts. Er setzte ihr nach, obwohl er nicht wußte, was er sagen oder tun würde, wenn er sie eingeholt hätte. Aber eines wußte er: Nie würde er es sich verzeihen, wenn er nicht wenigstens den Versuch unternommen hätte, ihr zu helfen.
    Wenn er sie überreden könnte, mit ihm zu kommen, heraus aus dem Schatten dieses Hauses, dann würde vielleicht der böse Zauber wirkungslos. Oder vielleicht könnte er draußen in der Welt einen Arzt für sie finden, der ihre Entstellung heilen würde. Jedenfalls war das alles besser, als wenn er sie einfach wieder in den See gehen ließe.
    Inzwischen war das Wasser in Sicht gekommen. Dunkel 111

    glänzte es zwischen den Gestrüppzweigen. Lulu hatte bereits das Ufer erreicht, und einen Augenblick lang traf sie das karge Sternenlicht. Alles, was Harvey befürchtet hatte, war wahr –
    und mehr. Seitwärts und an ihrem Schuppenrücken waren Flossen gewachsen, und ihre Beine waren fast schon miteinander verschmolzen. Ihre Arme waren zu kurzen Stummeln geschrumpft, und zwischen den Fingern wuchsen Schwimm-häute.
    Aber als sie sich umdrehte und ihn anschaute, war es ihr Gesicht, das ihn am meisten schockierte.
    Ihr waren die Haare ausgefallen, und die Nase war verschwunden. Der Mund hatte keine Lippen mehr, und ihre blauen Augen hatten sich in lidlose, kugelrunde Silberbälle ohne Wimpern verwandelt. Sie sah wie ein Monster aus. Und doch lag in diesen Augen und auf diesem Mund ein menschliches Mitgefühl, ein tieftrauriger Zug, der immer in seinem Herzen wohnen würde, und wenn er tausend Jahre leben müßte. Das wußte er.
    »Du warst mein Freund«, sagte sie, während sie am Rande dahintaumelte. »Ich danke dir dafür.«
    Und dann stürzte sie ins Wasser.
    Wie der Blitz war er am Uferrand, aber als er die Stelle erreichte, wo sie eingetaucht war, glätteten sich bereits die Wellen und die Blasen zerplatzten. Eine Minute oder auch länger starrte er ins eisige Wasser und hoffte, sie würde ihn sehen und auftauchen. Aber sie war an einen Ort verschwunden, an den er ihr nicht folgen konnte. Und das schien das Ende zu sein.
    Er umklammerte ihre Geschenke wie einen Talisman und eilte vom See fort und die Wiese hinunter, um seine Verabredung mit Wendell einzuhalten.
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XIII
Der vierte Teil
    der Dunkelheit

    » W as ist mit dir passiert?« flüsterte Wendell, als Harvey den tiefsten Punkt der Wiese erreicht hatte. »Ich dachte, wir wollten uns um Mitternacht treffen?«
    »Ich wurde … abgefangen«, sagte Harvey.
    Eigentlich hatte er Wendell von der unerwarteten Wendung erzählen wollen, aber offensichtlich war sein Freund auch ohne die Geschichte von Lulus Schicksal schon nervös genug.
    Harvey ließ die drei Überlebenden der Arche in die Tasche gleiten und beschloß, erst dann über seine Begegnung zu sprechen, wenn er und Wendell vor diesem Schreckensort in Sicherheit wären.
    Jetzt stand nur noch eines zwischen ihnen und ihrem ehrgei-zigen Plan: die Nebelmauer. Und wie immer machte sie einen recht harmlosen Eindruck, aber das war selbstverständlich eine Illusion, wie so vieles in Mr. Hoods Königreich.
    »Wir müssen ganz systematisch vorgehen«, sagte Harvey zu Wendell. »Denn sobald wir

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