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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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tatsächlich alle diese Mahlzeiten herbeigeschafft hatte. Jetzt sah er, daß sich alle gewünschten Gerichte hoch in der Diele auftürmten. Sie drohten umzukippen und die Arche mit einem übelriechenden Brei aus Leckereien und Eintöpfen zu über-schwemmen.
    »Ich weiß, was du vorhast«, sagte das Hood-Haus.
    Au weia, dachte Harvey, jetzt ist er mir auf die Schliche 198

    gekommen.
    Sein Blick wanderte von dem Festmahl an der Tür zur Haus-fassade, und er stellte fest, daß sein Plan funktionierte. Das Haus verlor allmählich seine Zauberkräfte. Viele Fenster hatten schon Sprünge oder waren ganz zerbrochen, die Türen blätterten ab und hingen schief in den Angeln, und die Verandabohlen waren aufgeworfen und morsch.
    »Du prüfst mich, stimmt’s?« rief Hood. Seine Stimme hatte noch nie melodisch geklungen, aber jetzt war sie häßlicher denn je. Es hörte sich an wie des Teufels Magenknurren.
    »Gesteh’s, du Dieb!« sagte er.
    Harvey atmete tief durch, dann sagte er:
    »Wenn ich dein Lehrling werden soll, dann muß ich doch wissen, wieviel Macht du hast.«
    »Bist du nun zufrieden?« wollte das verfallene Haus wissen.
    »Fast«, sagte Harvey.
    »Und was willst du noch?« sagte es.
    In der Tat, was noch, dachte Harvey. Ihm war von dieser lächerlichen Speisekarte ganz schwindlig geworden, und von seinen Wünschen war nicht mehr viel übrig.
    »Ich gewähre dir ein letztes Geschenk«, sagte das Hood-Haus, »einen letzten Beweis meiner Macht. Aber dann mußt du mich für immer und ewig als deinen Herrn und Meister akzeptieren. Einverstanden?«
    Harvey fühlte, wie ihm kalter Schweiß den Rücken hinunter-zulaufen begann. Er starrte das schwankende Haus an, sein Gehirn arbeitete wie rasend. Was konnte er noch fordern?
    »Einverstanden?« dröhnte das Haus.
    »Einverstanden«, sagte er.
    »Also, dann sage mir«, fuhr es fort, »was willst du?«
    Er betrachtete die winzigen Tiere rings um die Arche und die Blumen und das Essen, das durch die Tür hervorquoll. Was sollte er fordern? Ein letzter Wunsch, um Hood das Rückgrat zu brechen. Aber was? Was?
    199

    Vom See her kam ein kühler Wind auf. Der Herbst konnte nicht mehr weit sein. Jene Jahreszeit, in der die Dinge abstar-ben.
    Da rief er plötzlich: »Ich weiß es!«
    »Sprich«, antwortete das Haus. »Sprich, und dann wollen wir dieses Spiel ein für allemal beenden. Ich möchte deine leuchtende Seele unter meinen Flügeln, mein kleiner Dieb.«
    »Und ich möchte die Jahreszeiten«, sagte Harvey. »Alle Jahreszeiten auf einmal.«
    »Auf einmal?«
    »Ja, auf einmal.«
    »Das ist Unsinn!«
    »Aber genau das will ich!«
    »Dummkopf! Idiot!«
    »Genau das will ich! Du hast gesagt, noch einen Wunsch.
    Und das ist er!«
    »Nun gut«, sagte das Haus, »ich werde ihn dir erfüllen. Und wenn du dann hast, was du willst, kleiner Dieb, gehört deine Seele mir!«
    200

XXIII
Der Krieg der Jahreszeiten

    H ood verlor keine Zeit. Kaum hatte er Harvey sein letztes Angebot gemacht, frischte der sanfte Wind auf und scheuchte die Schäfchenwolken fort, die am Sommerhimmel dahingese-gelt waren. An ihrer Stelle türmte sich ein Moloch auf: eine Gewitterfront wie ein Gebirge. Drohend überragte sie das Haus wie ein an den Himmel geworfener Schatten.
    Und in ihrem dunklen Herzen verbarg sie mehr als nur ein Gewitter. Da war der sachte Regen vom frühen Morgen, der eine neue Frühlingssaat zum Sprießen brachte. Da waren die tiefhängenden Herbstnebel und das Schneegestöber, das dem Haus so viele Weihnachtsnächte beschert hatte. Aber jetzt fielen alle drei – Regen, Schnee und Nebel – auf einmal ein, und ein eisiger Schneeregen verfinsterte die Sonne beinahe gänzlich. Seine Kälte hätte die Blumen auf dem Hügel getötet, wenn ihm nicht der Wind zuvorgekommen wäre, der mit solcher Wucht durch die Blüten fegte, daß jedes Blatt und alles Laub hoch durch die Lüfte wirbelte.
    Harvey stand genau zwischen dem duftenden Blütenstrom und dem wolkenbruchartig herabprasselnden Schneeregen. Es kostete ihn viel Kraft, stehen zu bleiben. Aber er stemmte sich breitbeinig in den Boden und leistete jedem Stoß und jedem Schlag Widerstand. Er war wild entschlossen, sich nicht unterzustellen. Gut möglich, daß es das letzte Schauspiel war, das er als freier Geist erlebte, vielmehr sogar als lebender Geist. Und das wollte er unbedingt genießen.
    Es sollte ein unvergeßliches Schauspiel werden, ein Kampf, 204

    wie ihn dieser Planet noch nicht gesehen hatte.
    Zu seiner Linken durchbohrten

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