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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Junge, ich war schon viel zu lange hier«, sagte sie. Tränen glänzten jetzt auf ihrem Gesicht, aber diesmal weinte sie vor Freude und nicht aus Kummer. »Es ist Zeit zum Gehen.« Noch immer streichelte sie Sausewind, während die beiden immer durchsichtiger wurden. »Harvey Swick, du bist wirklich die leuchtendste Seele, die mir je begegnet ist«, sagte sie. »Bitte, bleib so.«
    Harvey wünschte sich sehnlichst, es würde ihm etwas einfallen, um sie noch ein wenig zum Bleiben zu überreden. Aber selbst wenn er eine Idee gehabt hätte, wußte er doch, es wäre egoistisch gewesen, sie auszusprechen. Mrs. Griffin ging in ein anderes Leben ein, ein Leben, wo jede Seele leuchtete.
    »Auf Wiedersehen, mein Kind«, sagte sie. »Wo immer ich hingehe, werde ich mit Liebe an dich denken.«
    Damit erlosch ihre geisterhafte Form, und Harvey blieb allein in den Ruinen zurück.
    207

XXIV
Ein Jungdieb

    H arvey blieb nicht lange allein. Kaum waren Mrs. Griffin und Sausewind verschwunden, hörte er, wie eine Stimme seinen Namen rief. Die Luft war immer noch voller Staub, deshalb hatte er Mühe, die Sprecherin zu finden. Aber nach einer Weile sah er sie. Sie stolperte auf ihn zu.
    »Lulu?«
    »Wer denn sonst?« sagte sie und lachte ein wenig.
    Noch immer triefte sie von oben bis unten, aber mit dem dunklen Seewasser, das allmählich von ihrem Körper ablief, verschwanden auch die letzten Spuren der silbernen Schuppen.
    Und als sie die Arme ausbreitete, hatte sie wieder menschliche Arme.
    »Du bist frei!« rief er, rannte auf sie zu und umarmte sie stürmisch. »Ich kann’s gar nicht glauben, daß du wirklich frei bist!«
    »Wir alle sind frei«, sagte sie und schaute zum See zurück.
    Ein außergewöhnlicher Anblick bot sich seinen Augen: durch den Nebel kam eine Prozession lachender Kinder auf ihn zu.
    Die vorderen hatten ihre menschliche Form bereits gänzlich wieder und die dahinter verloren mit jedem Schritt ein Stück von ihrem Fischdasein.
    »Wir alle sollten machen, daß wir hier fortkommen«, sagte Harvey mit einem Blick auf die Wand. »Meiner Meinung nach haben wir jetzt keine Schwierigkeiten, durch den Nebel zu kommen.«
    Eines der Kinder hinter Lulu hatte in den Ruinen des Hauses 210

    einen Karton mit Kleidern entdeckt, verkündete den übrigen seinen Fund und stolperte durch den Schutt, um sich etwas zum Anziehen zu suchen. Bevor Lulu Harvey stehen ließ und sich ebenfalls an der Suche beteiligte, gab sie ihm einen Kuß auf die Wange.
    »Erwarte dir bloß keinen von mir!« rief eine Stimme aus dem Staub. Wendell tauchte auf und strahlte über beide Ohren.
    »Was hast du gemacht, Harvey?« wollte er wissen, als er das Chaos inspizierte. »Hast du das Ganze Stein für Stein zerlegt?«
    »So ähnlich«, sagte Harvey, der seinen Stolz nicht verbergen konnte.
    Da brüllte es vom See her laut auf.
    »Was ist das?« wollte Harvey wissen.
    »Das Wasser verschwindet«, sagte Wendell.
    »Wohin?«
    Wendell zuckte mit den Schultern und meinte: »Wen juckt’s?
    Vielleicht direkt in den Höllenschlund!«
    Harvey mußte unbedingt dabei sein und machte sich Richtung See auf. Und trotz der Staubwolken in der Luft sah er, daß sich der See tatsächlich in einen Strudel verwandelt hatte und die einst so ruhigen Wasser tosend im Kreis herumwirbelten.
    »Übrigens, was ist denn aus Hood geworden?« wollte Wendell wissen.
    »Er ist weg«, sagte Harvey. Der Malstrom hypnotisierte ihn förmlich. »Sie sind alle weg.«
    Er hatte es noch nicht ausgesprochen, da rief eine Stimme:
    »Nicht ganz.«
    Er wandte sich vom Wasser ab, und dort, mitten im Trümmerhaufen, stand Rictus. Seine elegante Jacke war zerrissen und sein Gesicht ganz mit weißem Staub bedeckt. Er sah aus wie ein Clown, ein grinsender Clown.
    »Na, warum hätte ich verschwinden sollen?« sagte er. »Wir hatten uns doch noch nicht verabschiedet.«
    Harvey starrte ihn verblüfft an. Hood war verschwunden –
    211

    und mit ihm seine Zauberei. Wie konnte Rictus das Verschwinden seines Herrn und Meisters überlebt haben?
    »Ich weiß genau, was du jetzt denkst«, rief Rictus und griff in seine Tasche. »Du wunderst dich, daß ich nicht tot und verschwunden bin. Na schön, dann werd ich’s dir mal erklären.
    Ich hatte eben etwas vorausgeplant.« Und damit zog er eine Glaskugel aus der Tasche. Sie flackerte, als ob ein Dutzend Kerzenflammen darin brannten. »Ich habe dem alten Mann ein kleines Stückchen seiner Zauberkraft gestohlen. Hätte ja sein können, daß er mich satt hat

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