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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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produzieren. Mr. Hood rackerte sich wirklich ab, um etwas zu finden, was dir gefällt.«
    Wieder beachtete ihn Harvey gar nicht, sondern ging auf die Veranda hinaus. Auf der Wiese stand Mrs. Griffin mit Sausewind im Arm und schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Haus hinauf. Als sie Harvey herauskommen sah, lächelte sie.
    »Ich habe solchen Lärm gehört«, sagte sie. »Was war da drinnen denn los?«
    »Ich werde es Ihnen später erzählen«, sagte Harvey. »Wo ist Wendell?«
    »Fortgegangen«, sagte sie.
    Harvey legte die Hände um den Mund und schrie:
    »Wendell! Wendell!«
    Die Hausfront warf seine Stimme als Echo zurück, aber von Wendell war nichts zu hören.
    »Es ist ein warmer Nachmittag«, tönte es von Rictus, der auf der Veranda herumlungerte, »und vielleicht ist er … zum Schwimmen.«
    »O nein«, murmelte Harvey. »Nein, nicht Wendell, bitte, nicht Wendell …«
    Rictus zuckte mit den Schultern und sagte: »Er war ja doch nur ein doofes, kleines Kind. Vielleicht sieht er als Fisch sogar besser aus.«
    »Nein!« schrie Harvey zum Haus hinauf. »Das ist nicht fair!
    Das kannst du nicht machen! Das kannst du nicht!«
    Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wischte sie mit den 190

    Fäusten weg. Aber beides war nutzlos, Fäuste wie Tränen.
    Durch Weinen konnte er Hoods Herz nicht erweichen, und auch das Haus würde unter seinen Hieben nicht einstürzen.
    Gegen diesen Feind blieb ihm nur eine Waffe – sein Verstand, aber damit war er ziemlich am Ende.
    191

XXII
Heißhunger

    A ch, wäre das schön, wieder ein Vampir zu sein, dachte Harvey. Wenn man Klauen und Reißzähne hätte und ganz wild nach Blut wäre, wie damals an jenem fernen Halloween. Heute würde er sich ganz bestimmt nicht wieder schaudernd abwen-den – o nein! Er würde das Untier in sich wachsen lassen und dann mit den haßerfüllten rasiermesserscharfen Krallen Hood mitten ins Gesicht fliegen.
    Aber er war nun mal kein Untier, sondern nur ein Junge, und alle Macht lag beim König der Vampire, nicht bei ihm.
    Doch als er so zum Haus hinaufstarrte, fiel ihm eine Bemerkung von Rictus an der Tür wieder ein:
    »Man braucht ‘ne ganze Menge Zauberei, um so viel Lug und Trug zu produzieren«, hatte er gesagt. »Mr. Hood rackert sich wirklich ab, um etwas zu finden, was dir gefällt.«
    Vielleicht brauche ich ja gar keine Reißzähne, um ihn bis aufs Blut auszusaugen, dachte Harvey. Vielleicht genügen auch viele Wünsche.
    »Ich möchte mit Hood reden«, erklärte er Rictus.
    »Warum?«
    »Na ja … vielleicht gäbe es doch ein paar Dinge, die ich gerne hätte. Allerdings möchte ich nur mit ihm persönlich darüber sprechen.«
    »Er hört schon zu«, sagte Rictus und warf einen Blick aufs Haus zurück.
    Harvey musterte prüfend Fenster, Dachrinnen und Veranda, konnte aber nichts entdecken. Dann sagte er: »Ich sehe ihn 194

    nicht.«
    »Tust du aber doch«, antwortete Rictus.
    »Ist er denn drinnen im Haus?« fragte Harvey und starrte durch die offene Tür.
    »Hast du’s denn immer noch nicht erraten?« antwortete Rictus. »Er ist das Haus.«
    Bei diesem Satz legte sich eine Wolke vor die Sonne, Dach und Wände verfinsterten sich, und das ganze Haus schien wie ein monströser Pilz anzuschwellen. Es lebte! Es war ein lebendes Gebilde, von den Dachrinnen bis zu den Fundamen-ten!
    »Na los!« rief Rictus. »Rede mit ihm. Er hört dich.«
    Harvey trat einen Schritt näher ans Haus heran und sagte:
    »Kannst du mich hören?«
    Die Vordertür öffnete sich ein kleines Stück weiter, und oben von der Treppe blies ein Seufzerhauch eine Wolke mit Jives Staub auf die Veranda hinaus.
    »Er kann dich hören«, sagte Rictus.
    »Wenn ich bleibe«, setzte Harvey an.
    »Jjjaaa …«, sagte das Haus und formte aus Knarren und Rattern das Wort.
    »Schenkst du mir dann alles, was ich will?«
    »Für einen klugen Jungen wie dich …«, kam die Antwort,
    »alles.«
    »Versprichst du’s? Bei deiner Zauberkunst?«
    »Ich schwöre, ich schwöre. Gib nur das Stichwort …«
    »Nun, als erstes –«
    »Jjjaaa?«
    »Ich habe meine Arche verloren.«
    »Dann mußt du eine neue bekommen, mein Augenstern«, sagte das Hood-Haus. »Größer. Und schöner.« Und ein Brett auf der Veranda bog sich zurück und formte sich zu einer Arche, die dreimal so groß war wie die erste.
    »Ich möchte aber keine hölzernen Tiere«, sagte Harvey, 195

    während er sich den Stufen näherte.
    »Was dann?« fragte Hood. »Blei? Silber? Gold?«
    »Fleisch und Blut«, sagte Harvey.

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