Das Haus der verschwundenen Jahre
übrigblieb. Und so zog es ihn in die weiße Gischt im Herzen des Strudels, und unter schrillem Wutgeschrei ging er den Weg, den letztlich alles Böse gehen muß: ins Nichts.
Draußen am Ufer legte Harvey seinen Arm um Lulu, und beide lachten und weinten zugleich.
»Wir haben’s geschafft«, sagte er.
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»Was geschafft?« fragte eine Stimme hinter ihnen. Und als sie sich umdrehten, sahen sie Wendell auf sich zukommen, vergnügt wie eh und je. Jedes Kleidungsstück, das er in den Trümmern gefunden hatte, war ihm entweder zu groß oder zu klein.
»Was ist denn hier los?« wollte er wissen. »Worüber lacht ihr denn? Und warum weint ihr?« Er schaute Harvey und Lulu über die Schulter. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die letzten Bruchstücke von Hoods Körper unter immer schwächer werdendem Geheul verschwanden. »Und was war das?« wollte er wissen.
Harvey wischte sich die Tränen ab und erhob sich. Endlich hatte er die passende Gelegenheit für Wendells Lieblingsant-wort.
»Wen juckt’s?« sagte er.
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XXVI
Der Beweis
A m Rande von Hoods Reich, dort wo noch immer die Nebelwand schwebte, versammelten sich die Überlebenden zum Abschiednehmen. Natürlich wußte keiner genau, was für Abenteuer sie auf der andere Seite des Nebels erwarteten, denn jedes Kind war in einem anderen Jahr in das Haus gekommen.
Würde tatsächlich jeden auf der anderen Seite die eigene Zeit erwarten, abgesehen von ein, zwei Monaten weniger oder mehr?
»Aber selbst wenn wir die gestohlenen Jahre nicht mehr wiederbekommen«, sagte Lulu, »so sind wir doch frei, Harvey, und das haben wir dir zu verdanken.«
Das kleine Häufchen murmelte ein Dankeschön, und einige weinten sogar.
»Sag etwas«, zischte Wendell Harvey zu.
»Warum?«
»Weil du ein Held bist.«
»So komme ich mir aber gar nicht vor.«
»Dann sag ihnen wenigstens das.«
Harvey hob die Hand, und das Murmeln verebbte. »Ich möchte nur eines sagen … Vermutlich werden wir alle in Kürze vergessen, daß wir hier gewesen sind …« Einige Kinder riefen: Nein, werden wir nicht, oder, Wir werden dich nie vergessen. Aber Harvey blieb dabei und sagte: »Das werden wir, wir werden erwachsen werden und es vergessen. Es sei denn …«
»Es sei was?« sagte Lulu.
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»Es sei denn, wir erinnern uns selber jeden Morgen daran oder machen daraus eine Geschichte, die wir jedem erzählen, dem wir begegnen.«
»Man wird uns nicht glauben«, sagte eines der Kinder.
»Das macht nichts«, fuhr Harvey fort. »Wir werden wissen, daß es wahr ist, und nur das zählt.«
Dafür bekam er Beifall von allen Seiten.
»Und jetzt gehen wir heim«, sagte Harvey. »Wir haben hier schon viel zuviel Zeit vergeudet.«
Während sich das Häufchen auflöste, stupste ihn Wendell in die Rippen und sagte: »Und wo bleibt deine Erklärung, daß du kein Held bist?«
»Ach, jaja«, sagte Harvey und lächelte spitzbübisch. »Das habe ich total vergessen.«
Die ersten Kinder liefen bereits tapfer in die Nebelwand. Sie wollten die Schrecken von Hoods Gefängnis so schnell wie möglich hinter sich bringen. Harvey sah zu, wie sie sich mit jedem Schritt mehr auflösten, und wünschte, er hätte ein wenig Zeit gehabt, um sich mit ihnen zu unterhalten. Er hätte gerne gewußt, wer sie waren und warum sie sich Hood ausgeliefert hatten. Waren sie Waisenkinder gewesen, die kein Zuhause besaßen? Waren sie Ausreißer wie Wendell und Lulu? Oder hatten sie ihr eigenes Leben langweilig gefunden und sich von Illusionen verführen lassen, so wie es bei ihm selbst der Fall gewesen war?
Er würde es nie erfahren, denn eines nach dem anderen verschwand, bis nur noch Lulu, Wendell und er selbst innerhalb der Mauer übrig waren.
»Nun«, sagte Wendell zu Harvey, »wenn die Zeit da draußen tatsächlich wieder stimmt, dann werde ich ein paar Jahre weiter zurückgehen als du.«
»Das stimmt.«
»Und falls wir uns wiedersehen, werde ich ein ganzes Stück älter sein, und du wirst mich vielleicht gar nicht wiedererken-225
nen.«
»Ich werde dich erkennen«, sagte Harvey.
»Versprochen?« fragte Wendell.
»Versprochen.«
Damit schüttelten sie sich die Hand, und Wendell brach in den Nebel auf. Nach drei Schritten war er verschwunden.
Lulu seufzte tief. »Hast du dir schon mal zwei Dinge zur selben Zeit gewünscht«, fragte sie Harvey, »obwohl du wußtest, daß du nur eines davon haben konntest?«
»Ein- oder zweimal«, antwortete Harvey. »Warum?«
»Weil ich gerne mit dir zusammen erwachsen
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