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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Vorhängen, der kaum sein tief-schwarzes Herz verbergen konnte.
    »So, mein Dieb«, rief er und kümmerte sich nicht weiter um den jämmerlich strampelnden Rictus, »jetzt siehst du mich als den Mann, der ich einmal war. Oder besser gesagt, eine Kopie dieses Mannes. Hast du es dir so vorgestellt?«
    »Ja«, sagte Harvey, »genauso habe ich’s mir vorgestellt.«
    »Ach?«
    »Du bestehst aus Dreck und Schmutz, aus Abfall und Bruchstücken«, sagte Harvey. »Mit einem Wort: aus nichts!«
    »Ich bestehe aus nichts?« rief Hood. »Aus nichts? Pah! Dir werde ich’s zeigen, Dieb! Dir werde ich zeigen, was ich bin.«
    »Laß mich ihn für dich töten«, keuchte Rictus hervor. »Darum mußt doch du dich nicht kümmern! Ich werde das erledigen!«
    »Du hast ihn hierher gebracht«, sagte Hood und richtete seinen Splitterblick auf seinen Diener. »Du bist schuld daran!«
    »Er ist doch nur ein Junge. Mit dem werde ich schon fertig.
    Laß mich nur machen! Laß mich –«
    Noch ehe Rictus seinen Satz beenden konnte, packte Hood seinen Diener am Kopf und drehte ihn mit einem Ruck einfach ab. Eine gelblich-stinkende Wolke stieg aus dem abgebroche-218

    nen Hals auf, und Rictus, der letzte aus Hoods gräßlichem Quartett, war auf der Stelle tot. Hood ließ den Kopf fallen. Wie ein geöffneter Ballon sauste er in den Himmel, furzte stotternd vor sich hin, kreiselte herum und fiel schließlich leer zu Boden.
    Hood ließ den Körper, der praktisch zum Nichts geschrumpft war, beiläufig fallen und wandte seinen Blick wieder Harvey zu.
    »Schlaf«, sagte Hood.
    Aber Harvey hatte alles andere im Sinn als schlafen. Noch ehe es Hood verhindern konnte, packte Harvey die Kreatur am Mantel und zog daran. Mit einem saugenden Geräusch fielen die Fetzen ab, und Hood heulte laut auf vor Wut. Er war enttarnt.
    In seinem Herzen steckte gar keine großartige Zauberkraft.
    Tatsächlich hatte er nämlich gar kein Herz, sondern nur ein Loch, das weder kalt noch warm, weder tot noch lebendig war.
    Und dahinter steckten keine Geheimnisse, sondern nur das Nichts. Die Illusion eines Illusionisten.
    Diese Enthüllung machte Hood rasend. Er brüllte laut auf vor Wut, beugte sich hinunter und wollte dem Dieb seinen Lum-penmantel aus der Hand reißen. Rasch trat Harvey einen Schritt zurück und entging so um Haaresbreite den Fingern. Wütend setzte Hood ihm nach, seine Sohlen quietschten auf dem Felsen. Harvey hatte keine andere Wahl. Er ging immer weiter zurück, bis nur noch die Fluten hinter ihm lagen.
    Wieder wollte sich Hood die gestohlenen Lumpen holen. Und ein einziger tödlicher Griff hätte für Mantel und Dieb genügt, wenn nicht Lulu von hinten auf ihn losgestürmt wäre. Sie schwang das Brett wie einen Baseballschläger und traf damit so hart von hinten Hoods Knie, daß ihre Waffe zerbrach. Die Wucht des Schlags warf sie zu Boden.
    Doch der Schlag hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Hood verlor das Gleichgewicht und ruderte wie wild mit den Armen.
    Der donnernde Malstrom rüttelte am Felsen, auf dem er und 219

    Harvey balancierten, und drohte beide in den Schlund zu werfen. Selbst jetzt noch war Hood wild entschlossen, sich seine Lumpen von Harvey zurückzuholen, um seine innere Leere zu verbergen.
    »Gib mir meinen Mantel, Dieb!« heulte er.
    »Bedien dich!« schrie Harvey und warf die gestohlenen Lumpen ins Wasser.
    Hood stürzte sich darauf, während sich Harvey nach hinten warf, um festen Halt unter den Füßen zu bekommen. Hinter sich hörte er Hoods schrille Schreie. Er drehte sich um und sah den König der Vampire mit den Lumpen in der Hand kopfüber ins tosende Wasser stürzen.
    Einen Moment später tauchten Kopf und Mähne an der Oberfläche auf, und Hood begann, ans Ufer zu rudern. Aber so stark er auch war, der Malstrom war stärker. Er spülte ihn von den Felsen und zog ihn ins Zentrum, wo sich die Wasser wie in einer Spirale immer tiefer in die Erde bohrten.
    In seiner Todesangst begann er, um Hilfe zu bitten, aber seine kläglichen Angebote waren nur zu vernehmen, wenn ihn der Strudel ans Ufer trieb, wo Harvey und Lulu inzwischen standen.
    »Dieb!« schrie er. »Hilf mir, und … ich werde dir … die Welt
    … schenken! Für … immer … und ewig …«
    Schließlich zerrte das Wasser wie ein wildes Tier an seinem notdürftig zusammengeflickten Körper, riß ihm die Nägel aus und zerschlug seine Zähne, spülte seine Splittermähne fort und zerbrach seine Gliedmaßen an den Gelenken, bis nur noch ein lebender Haufen Strandgut

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