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Das Haus des roten Schlächters

Das Haus des roten Schlächters

Titel: Das Haus des roten Schlächters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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war
vereist und von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die im
beißend kalten Wind unversehens hochwirbelte. Ein paar
Stände waren offen, aber die Händler schützten sich
mit Segeltuchplanen gegen den scharfen Wind, der tiefdunkle
Schneewolken über den Himmel trieb.
    »An einem
solchen Tag sollte man zu Hause bleiben«, knurrte
Cranston.
    Ein
Reliquienhändler stand vor dem Gasthaus Zum Abt von Hydes und
wollte einen Stab verkaufen, der angeblich Moses gehört hatte.
Zwei Gefangene, aneinandergekettet und aus dem Gefängnis
Marshalsea entlassen, wo man die Schuldner einkerkerte, bettelten
um Almosen für sich selbst und andere arme Unglückliche.
Athelstan warf ihnen ein paar Pennies zu; ihre blaugefrorenen
Füße hatten sein Mitleid erregt.
    Ihre beiden Pferde
waren gut beschlagen, aber die wenigen Leute, die unterwegs waren,
drohten auf dem tückischen Glatteis das Gleichgewicht zu
verlieren. Sie tasteten sich behutsam voran und klammerten sich an
jede Häuserkante. Trotz allem, bemerkte Cranston, war die
Justiz nicht untätig; vor dem Hospital des Heiligen Thomas war
ein Bäcker auf einen Bock gebunden, weil er verschimmeltes
Brot verkauft hatte. Athelstan mußte an das alte Brot denken,
das er ausgepackt hatte, und sah zu, wie der Unglückliche von
einem Esel durch die Straßen gezogen wurde. Ein betrunkener
Dudelsackpfeifer schlitterte hinterdrein und spielte eine schrille
Melodie, um das Gestöhn des Bäckers zu
übertönen. Am Pranger zwang man einen schiefmäuligen
Schankwirt, sauren Wein zu saufen, und eine Dirne, der die Fesseln
tief ins Fleisch schnitten, wurde von einem schwitzenden
Gerichtsdiener ausgepeitscht; mit langen, dicken Stechpalmenzweigen
prügelte er auf den Rücken der armen Frau ein.
    »Sir
John«, sagte Athelstan leise, »das arme Weib hat
genug.«
    »Zum Teufel mit
ihr«, zischte Cranston. »Wahrscheinlich hat sie’s
verdient.«
    Athelstan schaute dem
Coroner in das runde, rote Gesicht. »Sir John, um des
Erbarmens willen - was ist los?«
    Athelstan spürte,
daß der Coroner unter seiner gespielten Vitalität und
Weinseligkeit entweder sehr erbost oder sehr besorgt war. Cranston
blinzelte und grinste gezwungen. Er zog sein Schwert, trieb sein
Pferd zur Seite hinüber zu dem Pfahl und schlug die Seile durch, mit denen
die Dirne festgebunden war. Die Frau sank in einem blutigen Haufen
zu Boden. Der Gerichtsdiener kam drohend auf Cranston zu; er
bleckte die Zähne, und sein häßliches Gesicht
wirkte noch grotesker. Sir John schwenkte sein Schwert und zog sich
den Schal vom Gesicht.
    »Ich bin
Cranston, der Coroner der Stadt!« donnerte er.
    Der Mann wich hastig
zurück. Sir John wühlte unter seinem Mantel herum, zog
ein paar Pennies hervor und warf sie der Hure zu.
    »Verdiene dir
ein ehrliches Stück Brot!« knurrte er.
    Ein wütender
Blick riet seinem Begleiter, lieber keinen Kommentar abzugeben. Sie
ritten weiter, vorbei an den Fischteichen und auf die riesige
London Bridge. Die Brücke war vereist und von Nebel
verhüllt. Athelstan hielt an und legte Cranston eine Hand auf
den Arm.
    »Sir John, hier
stimmt etwas nicht! Es ist so still.«
    Cranston grinste.
»Hast du’s noch nicht gemerkt, Bruder? Sieh hinunter:
Der Fluß ist zugefroren.«
    Athelstan starrte
ungläubig über das Brückengeländer. Sonst
rauschte und brodelte unten das Wasser. Jetzt hatte sich der
Fluß, soweit das Auge reichte, in ein weißes Eisfeld
verwandelt. Athelstan reckte den Kopf und hörte die Schreie
der Kinder, die sich die Schienbeine eines Ochsen unter die
Füße gebunden hatten und dort Schlittschuh liefen.
Jemand hatte einen Stand eröffnet, und Athelstans Magen
meldete sich unüberhörbar, als ihm der aromatische Duft
heißer Rindspastete in die Nase stieg. Sie ritten weiter,
vorbei an der St.-Thomas-Kapelle und auf die Bridge Street, nach
Billingsgate hinein und dann die Botolph’s Lane hinauf nach
Eastcheap. Die Stadt lag wie unter dem Zauberbann einer Eishexe.
Nur wenige Läden waren offen, und das gewohnte Geschrei von
Lehrjungen und Händlern war unter dem Klammergriff des Winters
verstummt. An einem Pastetenladen machten sie halt. Athelstan
kaufte sich eine heiße Hackfleischpastete, biß
kräftig hinein und genoß den Saft, der herausquoll, und
den köstlichen Duft der frischgebackenen Teighülle und
des scharfgewürzten Fleisches. Cranston sah ihm zu. »Das
schmeckt dir, Bruder?«
    »Ja, Herr. Warum
eßt Ihr nicht auch?«
    Cranston lächelte
boshaft. »Das würde ich gerne tun«,

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