Das Haus in den Wolken
ging stirnrunzelnd im Hof auf und ab. »Es ist zu riskant.«
»Ich habe mir in der Bibliothek Karten angesehen. Wir können die kleinen LandstraÃen nehmen statt der HauptverkehrsstraÃen. Und wenn uns jemand fragt, sagen wir einfach, wir machen Urlaub.«
»Aber wie machen wir es mit der Verpï¬egung, Sara? Was, wenn noch mehr Lebensmittel rationiert werden? Und das kommt bestimmt â die Konvois im Nordatlantik werden alle von den U -Booten abgeschossen. AuÃerdem kann ich meine Marken nicht benutzen.«
»Dafür haben wir meine. Zudem«, fügte sie hinzu, »könnten wir uns auf dem Land selbst versorgen. Wir könnten Gemüse anbauen. Und Fische fangen.«
»Fische fangen?« Sie sah im Zwielicht seine Zähne aufblitzen, als er lächelte.
»Als Kinder haben wir in Cornwall immer geangelt. Ich war ziemlich gut.«
Er legte seine Hände auf ihre Schultern. »Ach, Sara, Liebste, das würdest du für mich tun? Du würdest Hunderte von Kilometern mit dem Rad fahren â du würdest in einem kleinen Fischerboot hinausfahrenâ¦?«
»Natürlich«, antwortete sie ruhig. »Ich würde alles für dich tun. Sag mir, dass wir es tun â sag mir, dass wir nach Cornwall radeln, Anton, Liebster.«
Ein langsames Aufatmen. »Ja. Aber jetzt noch nicht. Wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat â wenn die Behörden andere Sorgen haben.« Er sah auf seine Uhr. »Geh jetzt lieber nach Hause. Ich will nicht, dass du im Dunkeln allein unterwegs bist.«
Sie küsste ihn. »Bis morgen.«
Er versuchte sich vorzustellen, wie sie aus London ï¬ohen, über Hügel und durch Täler hinuntersausten zum schmalen Arm Westenglands, in ein Land von Fels und See und weitem Himmel.
Manchmal hatte er sich beinahe selbst überzeugt. Oft dachte er voll Sehnsucht daran. Aber die meiste Zeit hatte er Angst. Er versuchte, sie vor Sara zu verbergen, und fürchtete doch, sie könne ihren durchdringenden sauren Geruch erkennen. Wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat, hatte er zu ihr gesagt, als rechnete er mit einem baldigen Ende. Er wusste, dass es vielleicht niemals enden würde. Was, wenn Einsperren nicht genug war? Was, wenn getötet wurde wie in Deutschland, Ãsterreich, Italien und Spanien? Was, wenn auch England lernte, Menschen wegen ihrer Nationalität, ihrer politischen Ãberzeugungen, ihres Glaubens zu töten? Und was, wenn sich die Befürchtungen einer Invasion als zutreffend erwiesen und die Nazis unaufhaltsam vorrückten, den Kanal überquerten und auf London marschierten? Was würde dann aus Menschen wie ihm werden?
Noch einmal ging er in Gedanken den Weg, der ihn hierhergeführt hatte, in diesen Keller voll Ratten und Spinnen. Eine glückliche Kindheit in Wien trotz Krieg und Armut, gefolgt vom grenzenlosen Optimismus der frühen Zwanziger und dem Roten Wien. Eine unbeschwerte Studienzeit, während der man sich manche Nacht um die Ohren schlug, sei es mit Feiern, sei es mit den Vorbereitungen auf eine Prüfung. Mit alledem war es vorbei gewesen, als 1929 der amerikanische Börsenkrach die Finanzmärkte Europas in Unsicherheit stürzte. Die Unsicherheit hatte dem Faschismus zum Aufstieg verholfen, und der Faschismus hatte ihn und seinen Vater an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Vor mehr als zwei Jahren, zum Zeitpunkt des Anschlusses, hatte er in der jubelnden Menge gestanden, während Hitler im offenen Wagen unter Glockengeläut in Wien eingezogen war. Als Hitler sich auf dem Balkon des Hotels Imperial zeigte, hoben die Menschen um Anton herum den Arm zum HitlergruÃ. Besorgt, es könnte auffallen, dass er den Gruà verweigerte, schob er sich aus dem Gewühl hinaus, aber das Jubelgeschrei folgte ihm. Von diesem Tag an waren ihm eine nach der anderen die Grundlagen seines Lebens genommen worden â Familie, Zuhause, Heimatland â, bis ihm nur noch Sara blieb.
Mit der Zeit fand er es immer schwerer zu ertragen, in diesem Keller eingemauert zu sein, abgeschnitten von der Welt und vom täglichen Leben. Als er sich das erste Mal ins Freie hinauswagte, drehte er eine Runde um den Block, bevor er, nach einem hastigen Blick nach rechts und nach links, wieder in die kleine SeitenstraÃe tauchte. Wie ein Kaninchen, das sich in seinen Bau rettet, dachte er. Später aber, in der von Spinnweben durchzogenen Dunkelheit, erinnerte er sich an die Berührung
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