Das Haus in den Wolken
Hilfe man anbieten sollte. Auf Richards vorsichtige Arbeitsangebote ging Chance gar nicht ein, erzählte stattdessen von einem Urlaub an der See, einer neuen Stellung, die er in Aussicht habe. Doch der Militärmantel, den er jedes Jahr über seinen Smoking anzog, wenn er sich am Ende des Abends verabschiedete, wurde sichtlich fadenscheiniger, und für Richards Gefühl gab es da zu viele tolle Angebote, zu viele groÃartige Chancen, die nie zu etwas führten. Er fragte sich, ob Chance fähig war, sich den ganz anderen Forderungen anzupassen, die sich in Friedenszeiten stellten.
Weihnachten 1927 kam Nicholas Chance nicht zum Regimentsabend. Das beunruhigte Richard â Chance hatte noch nie ein Treffen versäumt. Im neuen Jahr schrieb er ihm einen Brief, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck gab, dass er und seine Familie wohlauf seien.
Wenige Tage später erhielt er Antwort, allerdings nicht von Nicholas, sondern von dessen Tochter Ruby. In klarer Schrift, die wie gestochen wirkte, schrieb sie:
Lieber Mr. Finborough,
entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie belästige, aber ich versuche, meinen Vater ausï¬ndig zu machen. Er ist seit vier Monaten nicht mehr zu Hause gewesen, meiner Mutter geht es nicht gut, und ich muss ihn unbedingt sprechen. Wenn Sie eine Ahnung haben, wo er sein könnte, oder wenn Sie ihn inzwischen gesehen haben, könnten Sie ihn dann bitten, nach Hause zu kommen?
Hochachtungsvoll
Ruby Henrietta Chance
Richard war besorgt und beunruhigt nach der Lektüre des Briefs. Die Familie Chance lebte jetzt in Reading. Auf der Fahrt in die Firma erinnerte er sich, dass dort einer seiner Lieferanten saÃ, den zu besuchen vielleicht ganz nützlich wäre. Ja, er würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, zuerst den Lieferanten aufsuchen und danach Mrs. Chance und ihre Tochter.
Er fand das Haus in einer Siedlung roter Klinkerhäuser am Stadtrand. Es war ein kleiner allein stehender Bau mit einem hohen, sehr spitzen Giebeldach. Durch schmale Wege und Gebüsch war das Haus zu beiden Seiten von seinen Nachbarn abgeteilt. Kahle Sträucher standen im Vorgarten, und an den Erkerfenstern waren die Spitzenvorhänge zugezogen.
Da die Klingel offenbar nicht funktionierte, klopfte Richard laut an die Haustür. Als ihm geöffnet wurde, konnte er in dem schmalen Spalt etwas unterhalb seiner Augenhöhe eine kleine spitze Nase und misstrauische blaue Augen erkennen.
»Ich nehme an, du bist Ruby«, sagte er lächelnd. »Ich bin Richard Finborough, der Freund deines Vaters.«
Sie zog die Tür vorsichtig ein kleines Stück weiter auf. »Kommt mein Vater auch?«
»Leider nicht. Aber ich würde gern hereinkommen und mit deiner Mutter sprechen. Ist sie zu Hause, Ruby?«
Die hastige Bewegung, mit der sie den Kopf drehte, um nach rückwärts in den Flur zu blicken, hatte etwas Furchtsames. Aber sie sagte: »Bitte, Mr. Finborough. Kommen Sie herein.«
Als Erstes ï¬el Richard auf, dass es im Haus eiskalt war. Kaum wärmer als an diesem frostigen Januartag drauÃen auf der StraÃe. Es hätte ihn nicht gewundert, Eisblumen auf dem farbigen Glas des kleinen Rautenfensters in der Haustür zu sehen.
Ruby führte ihn in ein Wohnzimmer. »Mutter, wir haben Besuch. Mr. Finborough ist ein Freund von Dad«, sagte sie. »Mr. Finborough, das ist meine Mutter.«
Richard hatte Mühe, sein Erschrecken zu verbergen, als er Etta Chance sah. Er erinnerte sich noch deutlich an die Fotograï¬e von Frau und Kind, die Nick ihm damals im Unterstand so stolz gezeigt hatte. Man konnte Etta Chance noch ansehen, dass sie einmal eine hübsche Frau gewesen war, aber es war kaum etwas übrig von dem Reiz des jungen Mädchens, das Nicholas Chanceâ Blick gefesselt hatte. Etta Chance war farblos und ausgezehrt, die frische Röte ihrer Wangen war verblasst, das Gesicht eingefallen. Der Blick ihrer hellblauen Augen war stumpf und schien tiefe Verzweiflung auszudrücken.
Doch sie versuchte, den Schein zu wahren. Sie bot ihm die Hand und sagte: »Mr. Finborough, wie freundlich von Ihnen, uns zu besuchen. Nicholas spricht häuï¬g von Ihnen. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Unwillkürlich sah er zu ihrer Tochter hin. Sie ï¬xierte ihn mit ï¬ehendem Blick, und er verstand sofort. »Ich hatte in der Nähe zu tun, Mrs. Chance«, erklärte er, »und dachte, ich würde kurz vorbeischauen.
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