Das Haus in den Wolken
zurückfuhr.
Richards Anstrengungen, Nicholas Chance aufzuspüren, waren an einem toten Punkt angekommen. Er hatte mit Nicholasâ letztem Arbeitgeber gesprochen und erfahren, dass sein alter Freund, ein ï¬eiÃiger und sachkundiger Angestellter zwar, häuï¬g unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben war. Wenn er nicht von selbst gegangen wäre, hätte man ihn entlassen. Richard hatte in Londoner Zeitungen und Blättern der umliegenden Grafschaften Suchanzeigen aufgegeben, in denen er Nicholas Chance bat, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Doch nur ein paar Sonderlinge und Betrüger meldeten sich, mit denen er kurzen Prozess machte.
Als er die Habseligkeiten im Hause Chance durchging, fühlte er sich wie einer dieser ekelhaften Gaffer, die bei Verkehrsunfällen stehen blieben. Alles, was er fand â abgetragene Kleidung, einen Rasierpinsel fast ohne Borsten â, sprach von zermürbender Armut, von vornehmer Armut, die Schlimmste von allen in gewisser Hinsicht, weil sie verborgen werden musste. In einer Schublade ganz hinten fand er Wettzettel und Schuldscheine. Er erinnerte sich, dass Nicholas sogar in den Schützengräben Karten gespielt hatte â vielleicht war ihm das Spielen zur Sucht geworden. Vielleicht hatten seine ï¬nanziellen Probleme jenen kritischen Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr zu bewältigen gewesen waren. Vielleicht hatte er gewusst, was die Armut für seine Frau und seine Tochter bedeuten würde, und hatte es nicht ertragen, es mitansehen zu müssen. Während die Monate vergingen, kam Richard immer mehr zu der Ãberzeugung, dass Nicholas Chance nicht gefunden werden wollte.
Im November verlieà Mrs. Chance das Sanatorium. Ihre Ãrzte hielten es für besser, dass sie nicht in das Haus in Reading zurückkehrte, und rieten zu Seeluft. Richard fand eine Privatpension in Eastbourne, die von einer Mrs. Sykes geleitet wurde, einer freundlichen und warmherzigen Dame.
Richard wusste, was er Etta Chance antat, als er ihr sagen musste, dass er ihren Mann nicht gefunden hatte. Er verdammte sie damit zu einem trostlosen Dasein in Ungewissheit, verbannte sie gewissermaÃen in ein Niemandsland, immer noch verheiratet, aber ohne Ehemann. Es wurde beschlossen, dass Ruby während der Schulzeit bei den Finboroughs wohnen bleiben sollte, damit sie weiterhin zusammen mit Sara am Unterricht teilnehmen konnte. Die Schulferien würde sie in Eastbourne bei ihrer Mutter verbringen.
Richard packte Nicholas Chanceâ magere Besitztümer in einen Koffer und gab dem Hauswirt die Schlüssel des Hauses in Reading zurück. Ehe er Ruby mit dem Koffer allein lieÃ, damit sie die Sachen durchsehen und sich ein Andenken an ihren Vater heraussuchen konnte, klopfte er ihr auf die Schulter und erinnerte sie daran, dass ihr Vater ein guter Mann gewesen war und ein Held.
Als er Rubys Zimmer verlieÃ, ï¬el ihm etwas ein, das Nicholas einmal gesagt hatte. Armer alter Nick Chance, in fremden Landen verschollen. Du wirst die Heimat nie wiedersehen. Wo bist du?, fragte Richard. Was ist dir widerfahren, wohin bist du gegangen? Er erinnerte sich noch an Chanceâ wildes Triumphgeheul, als er den englischen Schützengraben erreicht hatte, und dachte, welch ein Unglück es doch war, dass Nicholas Chance, der den Krieg überlebt hatte, in den Friedenszeiten untergegangen war.
Gerüche hingen in den Tweed- und Wollstoffen: von Tabak und Rasierseife, von Schuhcreme und Pfefferminze. Gerüche, die Ruby stets mit ihrem Vater verbunden hatte.
Zwischen den Kleidungsstücken fand sie ein Tagebuch. Sorgfältig blätterte sie es durch, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, wohin ihr Vater gegangen sein mochte.
Doch sie fand nichts und legte es schlieÃlich beiseite. Als sie einen Seidenschal auseinanderfaltete, fand sie den Orden. Er lag kalt und schwer in ihrer Hand. Sie berührte das rot-blaue Band, strich mit den Fingerspitzen über die erhabene silberne Oberï¬Ã¤che des Ordens und wiederholte laut die Worte, die sie sich im Laufe des vergangenen Jahres wieder und wieder vorgesagt hatte: »Mein Vater hätte uns nicht verlassen, ohne seinen Orden mitzunehmen. Er war stolz darauf. Wenn er vorgehabt hätte, uns zu verlassen, dann hätte er ihn mitgenommen.«
Sie erinnerte sich, wie gern ihr Vater mit ihr in den Park gegangen war, als sie ein kleines Mädchen gewesen war; wie er ihr ein Boot aus Holz geschnitzt
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