Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
sein.»
«Werde ich das?»
«Was ist das denn für eine Frage, Julius!»
Er seufzte und rang sich ein Lächeln ab. «Natürlich werde ich dort sein. Nun erzähle, was es bei Radehorsts an Neuigkeiten gegeben hat.»
***
Auf dem Weg vom Haus seiner Mutter beim Neumarkt zu seinem eigenen Anwesen in der Löwengasse sann Julius darüber nach, was es für ein Glück war, dass Annette Reuther sich niemals hatte überreden lassen, nach dem Tod ihres Mannes ihr Zuhause aufzugeben. Sie lebte in angenehmer Entfernung von seinem Haus, die Besuche bei ihr waren stets amüsant und wirkten – obgleich sie keine geduldige Person war – in gewisser Weise beruhigend auf ihn. Vielleicht, weil sie als Einzige keinen Druck auf ihn ausübte und ihn – das musste er ihr lassen – von allen Menschen, die er bisher kannte, am besten verstand. Seine Mutter war zwar nicht so gebildet wie die meisten anderen Frauen der höheren Gesellschaft, doch sie war klug und mit ihren beinahe sechzig Jahren immer noch wissbegierig. Mit ihrem unumstößlichen Drang, Neues zu lernen, hatte sie die fehlende Erziehung über die Jahre hinweg mehr als wettgemacht. Auch ihren Manieren sah man die mangelnde Kinderstube nicht an; allenfalls an ihrem noch heute hin und wieder durchscheinenden Dialekt erkannte man ihre Herkunft.
Annette Reuther war die Tochter eines Kölner Webers, die vor vierzig Jahren dem Sohn eines anderen Webers anverheiratet worden war. Herrmann Reuther war ein ehrgeiziger junger Mann gewesen, der es mit Fleiß und unter vielen Entbehrungen geschafft hatte, aus der elterlichen Webstube eine kleine Manufaktur zu machen. Anfangs mit drei angestellten Weberinnen, später dann mit sechs. Als Julius zur Welt gekommen war, hatten sie noch in einer kleinen Wohnung mit nur zwei beengten Zimmern gewohnt. Als er in die Volksschule gekommen war, hatte sein Vater die Belegschaft seiner Textilmanufaktur verdoppelt, drei Jahre später auf zwanzig Weberinnen aufgestockt und seiner Frau das Haus gekauft, in dem sie heute noch mit Stolz lebte.
Nachdem Julius alt genug gewesen war, um einen Teil der Geschäfte zu übernehmen, hatten sie noch einmal vergrößert und den Betrieb – mittlerweile eine moderne Fabrik mit großen Webstühlen aus England und über sechzig Arbeiterinnen und Arbeitern – vor die Tore der Stadt nach Nippes verlegt. Dort gab es außer wenigen Manufakturen und einer Ziegelei nur Bauernhöfe und kleine Dörfer. Doch Herrmann Reuther hatte den Standort als ideal empfunden. Die Grundstückspreise waren erschwinglich gewesen, und so hatte er ein großes Areal erworben, auf dem Julius nun einen Anbau an die vorhandenen Fabrikhallen plante. Diese würden es ihm ermöglichen, seinen Betrieb noch einmal um mehr als die Hälfte zu vergrößern. Waghalsig war er nicht. Er wollte immer einen Schritt nach dem anderen tun und gleichzeitig seine Konkurrenten im Auge behalten. Gerüchten zufolge liebäugelten inzwischen weitere Fabrikanten mit der Ansiedelung ihrer Werke in Nippes. Doch bis es so weit war, würde vermutlich noch einige Zeit ins Land gehen. Solange wollte Julius Reuther seine Fabrik zum führenden textilverarbeitenden Betrieb Kölns ausbauen und damit das vollenden, was sein Vater vor vielen Jahren begonnen hatte.
Als Julius zu Hause ankam, schallten ihm schon am Eingang die aufgebrachten Stimmen seiner Kinder entgegen.
«Das hast du mit Absicht gemacht!», schrie Ricarda.
«Hab ich nicht. Du hast das blöde Bild auf den Boden gelegt», versuchte Peter sich zu verteidigen. Seine Stimme schwankte jedoch bedenklich. «Da muss man doch drauftreten.»
«Du hast die Gläser mit den Farben umgestoßen und alles ruiniert!», zeterte Ricarda. «Das zahle ich dir heim.»
«Lass mich in Ruhe, du blöde Gans.»
«Ich bin keine blöde Gans. Aber du bist ein gemeiner …»
«Schluss mit dem Gezanke!», mischte sich die grimmige Stimme der Hauswirtschafterin Berthe ein. Julius hörte sie leise schnaufen. Sie war nicht mehr die Jüngste und ein wenig korpulent. Offenbar war sie hastig die Stufen ins obere Geschoss hinaufgeeilt, um die beiden Streithähne zu trennen.
«Ich zanke nicht», gab Ricarda unbeeindruckt zurück. «Ich schimpfe. Und Peter hat es verdient. Schau nur, was er mit meinem schönen Bild gemacht hat.»
«Was für ein Bild?», wollte Berthe atemlos wissen. «Das Geschmiere da? Wirf es weg. Da ist ja nix mehr zu erkennen.»
«Ja, weil Peter es kaputt gemacht hat. Er hat absichtlich die Farben
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