Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
anmerken zu lassen. «Mir hat Herr Reuther in dieser Hinsicht keine Anweisungen gegeben, aber wenn du glaubst, er hat etwas dagegen, wenn ich diese beiden Zimmer betrete, dann unterlasse ich es und spreche heute Abend mit ihm darüber.» Sie nickte Berthe noch einmal zu und verließ die Küche. Hinter sich hörte sie die Haushälterin murmeln: «Mit ihm darüber sprechen? Ganz schön mutig.»
***
«Hier müsste laut Besitzurkunde einer der Grenzsteine liegen», sagte Thomas Herold, der Vorarbeiter in Julius Reuthers Textilfabrik und dessen Vertrauter. Er deutete auf ein quadratisch ausgehobenes Stückchen Erde am Rande der hölzernen Umzäunung, die Julius’ Vater vor vielen Jahren hatte errichten lassen. «Der Boden ist allerdings so schlammig vom vielen Regen und die Grasnarbe stark beschädigt durch Wildfraß, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob jemand den Stein ausgegraben hat.» Er rieb sich nachdenklich über den sauber gestutzten schwarzen Kinnbart und fuhr sich dann durch das ebenso kurz geschnittene Haupthaar. Er war ein kleiner, drahtiger Mann Anfang vierzig, der schon viele Jahre für Julius tätig war. Als einziger seiner Angestellten nahm er sich das Recht heraus, seine Meinung unverblümt zu äußern. Aber er war absolut loyal und wäre für Julius, falls nötig, durchs Feuer gegangen. Die beiden hatten einander schon zu einer Zeit gekannt, als Julius noch der Sohn des einfachen, wenn auch ambitionierten Webers gewesen war.
Stirnrunzelnd musterte Julius die Grabungsstelle. «Und die anderen Steine?»
«Der Grenzstein am nordwestlichen Ende des Grundstücks ist ebenfalls nicht auffindbar», berichtete Herold. «Aber die Steine auf der anderen Seite sind alle an Ort und Stelle.»
«Dann werde ich den Besitzer des angrenzenden Grundstücks um Erlaubnis bitten müssen, auf seinem Grund zu graben, um festzustellen, ob die Steine sich dort befinden.» Julius wandte sich zum Gehen. «Suchen Sie in der Zwischenzeit auf unserer Seite weiter. Wenn Lungenberg recht hat, dann könnte es sein, dass die Steine auf meinem Grund sind und damals in der Urkunde falsche Positionen angegeben wurden.»
«Glauben Sie das wirklich, Herr Reuther?» Herold blickte seinen Arbeitgeber und Freund zweifelnd an.
«Hier geht es nicht darum, was ich glaube», erwiderte dieser ernst. «Ich gehe davon aus, dass meines Vaters Angaben über unseren Besitz korrekt sind. Lungenberg behauptet etwas anderes, und nun ist es an mir, herauszufinden, wer recht hat.»
«Wenn die Angaben, die dieser Mensch gemacht hat, stimmen, dann können Sie hier nicht weiterbauen», gab Herold zu bedenken. «Haben Sie mal überlegt, ob Lungenberg einen Vorteil daraus ziehen würde?»
«Lungenberg?» Julius schüttelte den Kopf. «Seine Ziegelei ist nicht sehr erfolgreich, mir ist nicht bekannt, dass er seine Gebäude zu erweitern gedenkt.»
«Warum dann der Aufstand wegen Ihres Anbaus?», hakte Herold nach. «Da muss doch was dahinterstecken. Er hat früher nie was gegen die Grenzen gesagt. Und jetzt, wo Sie bauen wollen, beschwert er sich plötzlich. Das riecht für mich danach, dass er selbst etwas vorhat.»
«Mag sein. Ich werde versuchen, mehr über ihn herauszufinden.» Julius nickte seinem Vorarbeiter zu. «Machen Sie für heute Feierabend. Ich habe noch einige Papiere durchzusehen, denn morgen habe ich einen Termin bei Schnitzler.»
«Sie kaufen die Aktien dieses Hüttenwerks?»
«Das habe ich vor. Die Dillinger Hütte scheint eine sichere Kapitalanlage zu sein.»
«Sicher ist bei Aktiengeschäften nichts», erwiderte Herold mit einem besorgten Unterton. «Seien Sie bloß vorsichtig, Herr Reuther.»
«Keine Sorge, Herold. Ich weiß, was ich tue.» Julius lächelte ihm zu.
Herold lächelte ebenfalls. «Ich mein ja nur.» Er hielt kurz inne. «Und wie geht es mit Ihrer neuen Gouvernante? Taugt sie was?»
Sie gingen gemeinsam zur Fabrikhalle zurück. «Ich nehme es an.»
«Sie nehmen es an?», echote Herold. «Was soll das denn heißen? Entweder sie taugt was oder nicht. Hat sie die Kinder schon zur Räson gebracht?»
Julius blickte auf den Gebäudekomplex, der vor ihm lag, und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. «Sie hat Ricarda auf diese neumodische Weise frisiert und mit Peter Lesen geübt. Soweit ich von Köbes erfahren konnte, gab es in den letzten drei Tagen keine Zankereien und kein Geschrei im Haus.»
«Na, das ist doch schon mal ein guter Anfang», befand Herold anerkennend.
«Heute früh war zum ersten Mal der Tisch
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