Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
Empört starrte er sie an.
Annette Reuther trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. «Das Mädchen ist ein wahrer Glücksgriff. Obgleich ich auf den ersten Blick nicht gedacht hätte, dass sie einen solchen Schneid besitzt.»
«Schneid?»
«Wer sich traut, auch nur in deine Nähe zu kommen, wenn du derart schlechte Laune hast, verdient die höchste Achtung. Wer es dann noch wagt, dir zu widersprechen, tut wahrhaft Heldenhaftes.» Annette lachte. «Dein Vater war genauso wie du. Wenn ich ihn nicht hin und wieder an seine Manieren erinnert hätte, wären wir heute eine Familie von Wilden.» Sie hielt inne und drückte seinen Arm. «Fräulein Schmitz hat recht, weißt du. Was da passiert ist, ist schlimm – du kannst es aber heute nicht mehr ändern oder geraderücken. Verzeih, dass ich gelauscht habe, aber das war ohnehin nicht weiter schwierig bei der Lautstärke, in der du das Mädchen angebrüllt hast. Eine weniger starke Person wäre allein von deiner Stimme umgeweht worden, mein Lieber. So geht man nicht mit einer Dame um – auch nicht, wenn sie nur eine Angestellte ist. Aber das weißt du selbst.» Wieder drückte sie seinen Arm. «Du warst schon immer von aufbrausender Natur.»
Julius seufzte. «Es tut mir leid, Mutter.»
«Sag das nicht mir, Junge. Mich hast du nicht angebrüllt.»
«Ich bin heute nicht in der Stimmung zum Feiern.»
«Dann täusche es vor. Das bist du zumindest deinen Kindern schuldig, Julius. Wegen mir brauchst du dich nicht anzustrengen, und ich bin sicher, auch Fräulein Schmitz legt keinen Wert darauf. Aber Ricarda und Peter haben das Recht auf ein friedliches und glückliches Weihnachtsfest.» Annette trat einen Schritt zurück und blickte ihn auffordernd an. Als er nicht gleich reagierte, wurde ihre Miene ernst. «Julius, du magst Valentina nicht geliebt haben. Vielleicht fällt es dir deshalb leichter, sie aus deinen Gedanken zu verbannen. Aber die Kinder haben sie geliebt, ganz gleich, was war. Versuch bitte nicht, einen Grund vorzuschieben, der es dir erlaubt, dich in dein Schneckenhaus zurückzuziehen. Du hast dich viel zu lange darin verkrochen. Ist es das wirklich wert?»
Julius senkte den Kopf. «Nein, Mutter. Du hast ganz recht. Das war es – ist es nicht wert.»
Das Lächeln kehrte auf Annettes Lippen zurück. «Dann komm jetzt und schau dir an, was für einen wunderbaren Tisch Kathrin gedeckt hat. Ich hätte nie gedacht, dass sie so kreativ ist.»
«Das ist sie auch nicht», antwortete Julius und gab sich alle Mühe, nicht mehr an den Ärger zu denken, der ihm bevorstand. «Wenn hier im Hause irgendetwas ordentlich oder hübsch dekoriert ist, kannst du Fräulein Schmitz dafür danken.»
«Ach, wirklich?» Annette hakte sich bei ihm unter.
«Ja, wirklich.»
«Wo hast du sie noch mal aufgegabelt?»
«Das ist eine lange Geschichte, Mutter.»
***
«Das war eine wunderbare Christmette», sagte Pauline. «Finden Sie nicht, gnädiger Herr? Wie schade, dass Ihre Mutter zu müde war, um uns zu begleiten. Und die Kinder hätten auch ihre Freude gehabt. Na ja, bald werden sie alt genug sein, um die Nachtmesse zu besuchen.» Sie atmete tief die klare, kalte Luft ein. Die Mette hatten sie in der nicht weit von Julius’ Haus gelegenen Kirche St. Georg gehört. Danach hatten sie noch Nachbarn und Bekannten eine frohe Weihnacht wünschen müssen. Den kurzen Rückweg gingen sie nun – wie bereits den Hinweg – zu Fuß.
Pauline zog den dicken blauen Wollschal fester um Kopf und Schultern. Er war wunderbar warm und weich – ein Geschenk von Julius zum Heiligen Abend, mit dem sie nicht gerechnet hatte, denn immerhin hatte er ihr bereits die versprochene Weihnachtsgratifikation ausgezahlt.
«Sie haben recht, es war eine schöne Mette … und ein sehr angenehmer Heiliger Abend.» Julius blickte sie von der Seite an. «Dafür sollte ich mich wohl bei Ihnen bedanken.»
Pauline errötete. «Ich habe nur getan, was Sie mir aufgetragen haben.»
«Und was war das?»
«Sie haben gesagt, dass ich mich nicht an Ihren Launen stören und mich darüber hinwegsetzen soll.»
Schmunzelnd nahm er sie beim Ellenbogen und führte sie um eine gefrorene Wasserlache herum. «Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie so schnell den Dreh heraushaben.» Da sie nun schon einmal so nebeneinandergingen, bot er ihr seinen Arm an.
Pauline zögerte nur kurz, dann hakte sie sich bei ihm ein. «Warum machen Sie es den Menschen so schwer, Sie zu mögen?», fragte sie geradeheraus. «Sie sind
Weitere Kostenlose Bücher