Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
verlassen. Pauline rannte hinauf in ihre Kammer und verriegelte die Tür hinter sich.
«Pauline?», hörte sie Friedhelm Buschners wütende Stimme. «Pauline! Mach die Tür auf!» Seine Stimme mischte sich mit der seiner Frau. «Fräulein Schmitz! Pauline!»
Sie spürte Hände an ihren Schultern, auf ihrem Gesicht. Mit einem Schrei fuhr sie hoch und starrte in Julius Reuthers Augen. Er stand neben ihrem Bett und beugte sich mit alarmiertem Gesichtsausdruck über sie. Sie spürte, wie ihr Atem in heftigen Stößen ging, dass ihre Stirn schweißnass war. Mit Mühe löste sie sich aus der Welt ihres Traumes.
«Offenbar hatten Sie einen Albtraum, Fräulein Schmitz», sagte er ruhig. Seine Hände lagen sanft auf ihren Schultern. Als sie sich dessen bewusst wurde, zuckte sie zurück. «Lassen Sie mich!»
Sofort nahm er die Hände fort; sie atmete auf. Doch er ging nicht weg, sondern setzte sich auf ihre Bettkante. «Ich war auf dem Weg, um nach Ricarda und Peter zu sehen. Ich beobachte die beiden gerne, wenn sie tief und fest schlafen. Sie sind dann so friedlich.» Er lächelte kurz, wurde aber sogleich wieder ernst. «Dabei habe ich ein Wimmern aus Ihrem Zimmer gehört und dachte, Sie hätten sich vielleicht verletzt.» Er hielt kurz inne. «Als Sie auf mein Rufen nicht geantwortet haben, musste ich mir erlauben, einzutreten.» Aufmerksam musterte er sie. «Haben Sie oft solche Albträume?»
«Nein. Ja.» Etwas zittrig atmete Pauline ein. «Manchmal. Ich dachte, es hätte aufgehört.» Sie fühlte sich etwas merkwürdig in seiner Gegenwart, aber sie sah keine Bedrohung von ihm ausgehen. Zwar gehörte es sich ganz und gar nicht, dass er auf ihrem Bett saß, doch da er keinerlei Anstalten machte, ihr zu nahezukommen, hatte seine Anwesenheit beinahe etwas Tröstliches.
«Er hat nicht aufgehört, nicht wahr?»
Pauline erschrak. «Was meinen Sie?»
Julius blickte sie ruhig an. «Sie haben im Schlaf geredet.» Abrupt stand er auf und ging ein paar Schritte vor dem Bett auf und ab. «Männer wie er gehören kastriert.»
Sprachlos starrte sie ihn an. Als er sich erneut auf die Bettkante setzte, wich sie instinktiv zurück. In seinen Augen flackerte etwas auf, das sie nicht identifizieren konnte. War es Schmerz? Zorn?
Sie sah, wie seine Hand zuckte, als wolle er sie nach ihr ausstrecken, doch er tat es nicht. Stattdessen sagte er: «Sie wissen, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben.» Sein Blick suchte den ihren. Er lächelte schwach. «Nicht so etwas.» Mit einem Ruck stand er auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal zu ihr um. «Versuchen Sie wieder einzuschlafen, Fräulein Schmitz. In diesem Haus sind Sie sicher.»
Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, fühlte Pauline sich mit einem Mal schrecklich allein. Sie wünschte sich, er wäre noch nicht gegangen. Seine bloße Anwesenheit wirkte beruhigend auf sie. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Ebenso wenig konnte sie sich erklären, warum es sie nicht beunruhigte, dass er wusste, was ihr widerfahren war. Es war tröstlich zu wissen, dass sich jemand um sie sorgte, auch wenn es so ein merkwürdiger Mann war wie Julius Reuther. Sie wurde nicht klug aus ihm. Anfangs hatte er so getan, als sei er ein Feind der Frauen, als verabscheue er sie geradezu und habe sich nur aus pragmatischen Gründen dazu entschlossen, Pauline einzustellen. Doch so allmählich glaubte sie, dass dies nur eine Fassade war, hinter der sich ein ganz anderer Mann verbarg.
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Kapitel 15
«Verfluchte Bastarde!» Julius schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch. «Das darf doch wohl nicht wahr sein!» Er griff nach dem leeren Weinglas auf dem Tisch und schleuderte es wutentbrannt gegen das Kaminsims.
«Gnädiger Herr?» Jakob streckte vorsichtig den Kopf zur Tür herein.
Zornig starrte Julius ihn an. «Verschwinde, Köbes! Kann man sich in diesem Haus nicht einmal mehr aufregen, ohne gleich bemuttert zu werden?»
Sogleich verschwand Jakob wieder. Julius stand auf und ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. Wer hatte ihm diesen Streich gespielt? Wenn er denjenigen erwischte, würde er ihm den Hals umdrehen. Ausgerechnet am Heiligen Abend mussten ihn derartige Nachrichten erreichen!
«Herr Reuther, entschuldigen Sie bitte die …»
«Was ist denn jetzt schon wieder?», fuhr Julius auf. Dann erst erkannte er, dass es nicht sein Diener, sondern Pauline war, die in der Tür stand. Doch ihr Anblick brachte ihn nur noch mehr auf. Sie sah in ihrem
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