Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
tut mir leid.» Pauline wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
Aber Julius beachtete sie überhaupt nicht. «Viel schlimmer war, dass sie mich verachtet hat. Sie hat es ihren Eltern übel genommen, dass sie sie an einen Emporkömmling verheiratet hatten, der nicht aus einer alteingesessenen Familie kam. Ihren Zorn darüber ließ sie mich jeden Tag spüren.» Er stockte kurz, wohl, um sich zu sammeln. Pauline schwieg abwartend.
«Eine Weile ließ ich sie gewähren, sie ihren Launen nachhängen. Lediglich wenn sie sich in Gefahr begab, uns der Lächerlichkeit preiszugeben, habe ich sie zurechtgewiesen. Sie war sehr schwer zu kontrollieren. Vielleicht bin ich hin und wieder ein wenig zu grob oder laut geworden. Ich weiß, dass man mir nachsagt, ich hätte meine Frau schlecht behandelt. Aber was hätte ich tun sollen? Sie festbinden? Ihr sagen, dass ihre Eltern sie nur mit mir verheiratet hatten, weil sie sie sonst nicht losgeworden wären?» Bitterkeit hatte sich in seine Stimme geschlichen. «Irgendwann hatte ich das begriffen. Ihr Vater war außergewöhnlich großzügig mir gegenüber. Heute weiß ich, dass Valentinas Mitgift doppelt so hoch gewesen ist wie die ihrer älteren Schwester. Mein Schwiegervater hat natürlich gewusst, dass mit ihr etwas nicht stimmt, und war in Sorge, dass ein Mann von höherer, besserer Abkunft sie ihm wieder zurückgegeben hätte. Ich hingegen brauchte das Geld und seinen Einfluss im Stadtrat. Als ich einmal an der Angel hing, konnte ich nicht wieder zurück.»
«Sie haben immer geschwiegen, nicht erzählt, dass sie krank war?»
Julius nickte grimmig. «Ich musste die Kinder vor dem Skandal schützen. Gott allein weiß, wie sehr ich gebetet habe, dass sie die Krankheit nicht von ihrer Mutter erben. So etwas soll es ja geben. Wie es aussieht, war der Allmächtige wohl zumindest in dieser Hinsicht barmherzig.»
«Woran ist Ihre Frau gestorben?», wagte Pauline zu fragen.
«Sie hat sich umgebracht, das wissen Sie.» Wieder sah er zu den Sternen empor. «Ich wusste mir mit der Zeit nicht mehr zu helfen und zog einen Arzt hinzu. Er verschrieb ihr Laudanum, das in den dunkeln Phasen gegen ihre Beschwerden und ihren Trübsinn helfen, und in ihren euphorischen Zeiten dämpfend wirken sollte. Es half auch ein wenig, doch sie nahm immer mehr davon ein. Erst heimlich, dann ganz offen. An jenem Heiligabend vor ihrem Tod nahm ich ihr die Flasche mit der Medizin weg. Sie war schon seit Tagen völlig benebelt, hatte die Kinder nicht erkannt. Wenn Berthe nicht gewesen wäre, die ständig auf sie achtgab, wäre Valentina fast unbekleidet auf die Straße gerannt.
Als ich ihr das Laudanum fortnahm, drehte sie durch. Sie tobte, schrie. Ich ließ den Doktor kommen, doch der gab ihr nur mehr von dem Teufelszeug. Dann schlief sie, und ich hoffte, dass wir wenigstens über die Feiertage Ruhe hätten. Am Weihnachtstag erschien sie dann recht aufgeräumt zum Frühstück, aß zwar kaum etwas, aber sie benahm sich leidlich normal. Später zog sie sich in ihr Zimmer zurück, um zu ruhen. Als ich am späten Nachmittag nach ihr sah, lag sie bekleidet auf dem Bett und …» Julius schloss die Augen, schluckte hart. «Sie hatte sich an beiden Armen die Pulsadern aufgeschnitten. Das Blut war überall, die Matratze getränkt davon.»
«Um Gottes willen! Das muss ja grauenvoll gewesen sein.» Pauline zog die Hände aus den Ärmeln ihres Mantels und umfasste seinen Arm. «Sie trifft keine Schuld, Herr Reuther. Schließlich haben Sie alles getan, um ihr zu helfen.»
«Natürlich habe ich das.» Langsam legte Julius seine rechte Hand über ihre. «Aber die Menschen sehen eben nur das, was sie sehen wollen. Und um der Kinder und der Familie willen musste ich die wahren Umstände ihres Todes verschweigen.» Er drückte leicht ihre Hände, dann schob er sie fort und erhob sich. «Der Skandal war auch so schon groß genug.»
Pauline stand ebenfalls auf. «Aber es ist nicht recht, dass Sie noch jetzt deswegen leiden sollen.»
«Ich leide nicht.»
«Doch, das tun Sie. Und die Kinder ebenfalls», beharrte sie.
«Es ist für uns alle besser, dass sie fort ist.»
Pauline nickte. «Ja, das ist es.»
Überrascht sah er sie an.
Sie blickte an der Fassade des großen Hauses empor. Hinter einigen Fenstern brannten noch Lichter; zum ersten Mal empfand sie den Anblick als heimelig. Als sie sich Julius wieder zuwandte, lächelte sie leicht. «Danke, dass Sie mir die Wahrheit erzählt haben.»
Langsam erwiderte er ihr
Weitere Kostenlose Bücher