Das Haus in Georgetown
Unglücklicherweise ist er in Frankreich in einen Giftgasangriff geraten und fast gestorben. Man schickte ihn nach Hause, und er hat noch viele Jahre gelebt, aber er war nurnoch ein Schatten seiner selbst. Er wurde so etwas wie ein Einsiedler. Meine Großmutter wagte es wegen seines Zustands nicht, außer Haus zu arbeiten, also machte sie ihre einzige echte Begabung zum Beruf und wurde Klavierlehrerin. Sie hat in diesem Zimmer unterrichtet, an diesem Klavier.“
„Das war aber nicht ihr einziger Broterwerb.“ Faith hatte sich ein paar Einzelheiten gemerkt, die sich jetzt zu einem Bild zusammenfügten. „Nicht ganz.“
„Nein?“
„Violet hat in ihrem Garten Topfpflanzen gezüchtet. Im Frühling Tulpen und Narzissen. Im Herbst einjährige Zierpflanzen. Aus dem ganzen Westteil von Georgetown kamen Kunden zu ihr. So ist sie auch in die Garten-Tour aufgenommen worden. In den Zeitungsausschnitten, die ich gefunden habe, wird sie ,Violet mit dem grünen Daumen‘ genannt. Die hiesigen Damen der Gesellschaft haben sich bei ihr Pflanzen besorgt.“
„Großmutter hat ständig gearbeitet“, sagte Lydia. „An die Pflanzen erinnere ich mich nicht. Vielleicht hat sie aufgehört, sie zu verkaufen, als Amerika in den Krieg eintrat, aber ich weiß, dass sie immer viel zu tun hatte.“
„In unserer Familie gab es einige vorbildliche Frauen.“ Faith sprach mit Lydia, hoffte aber, dass Remy noch zuhörte. „Einschließlich deiner Mutter, die die ganze Welt bereist hat, um deinem Vater zu helfen, unser Land zu vertreten.“
Lydia antwortete nicht. Faith fragte sich, was ihrer Mutter durch den Kopf ging. Überlegte sie, was ihre eigenen Nachfahren dereinst von ihr denken würden? Sie hatte die Entführung ihrer Tochter durchgestanden, aber um welchen Preis?
Und was würden Remys Kinder und Enkelkinder später über Faith erzählen? Dass sie nach ihrer Scheidung verbittert war? Dasssie in Selbstmitleid gebadet hatte – oder dass sie sich, wie ihre weiblichen Vorfahren, wieder aufgerappelt und um ihr Glück gekämpft hatte? Nie war ihr so deutlich geworden wie jetzt, wie sehr sie sich das Letztere wünschte.
„Dieses Gespräch verlangt nach einer kleinen Expedition“, sagte Lydia schließlich, stand auf und griff nach einer Kerze. „Wollt ihr sehen, was Candace uns hinterlassen hat?“
„Noch eine Inschrift?“ Alex war schon auf den Beinen. „Die im Garten habe ich noch nicht entdeckt.“
„Dich kann ich wirklich nicht überraschen, so sehr ich es auch versuche.“ Lydia ging an Remy vorbei die Treppe hinauf, und sofort bildete sich hinter ihr eine kurze Schlange. Sie führte die drei in Faith’ Zimmer.
„Als Jedediah gestorben war, wollte Candace nicht mehr in diesem Zimmer schlafen. Zu viele Erinnerungen, nehme ich an. Deshalb machte sie es zu ihrer Werkstatt. Hier hat sie abends und an den Sonntagen an ihren Hüten gearbeitet. Meine Großmutter erzählte mir, dass Candace genau hier gesessen hat.“ Lydia zeigte in die Mitte des Raums. „An einem Tisch, von dem sie zum Fenster hinausblicken konnte. Sie wartete darauf, dass Jedediah nach Hause kam.“
„Aber der war tot.“ Alex zog die Brauen hoch. „War sie verrückt?“
„Nein, aber als er noch lebte, hatte sie sich immer umgezogen und ihr Haar in Ordnung gebracht, bevor er abends nach Hause kam. Sie war also normalerweise in diesem Zimmer und hielt nach ihm Ausschau. Sie vertraute mir an, dass der Höhepunkt ihres Tages darin bestand, Jedediah auf der Prospect Street zu entdecken, und als er gestorben war, versuchte sie diese Momente wieder heraufzubeschwören. Sie meinte, dass sie sich ihm dann nahe fühlte.“
Faith kämpfte mit den Tränen. Sie räusperte sich. „Ich schätze, ich weiß, wo sie die Inschrift hinterlassen hat.“ Sie trat ans Fenster und kniete sich hin, sodass sie unter den breiten Sims gucken konnte. „Da ist sie.“
Remy war als Erste an ihrer Seite. Sie hockte sich ebenfalls hin und betrachtete die eingeritzten Worte. „Weil sie hier so oft auf ihren Mann gewartet hat?“
„Bestimmt.“
Remy fuhr mit der Fingerspitze über die Buchstaben, die mit der Zeit schwächer geworden und von Anfang an nicht das Werk einer Expertin gewesen waren. Ein einfaches viktorianisches Graffito. Ein Liebesgedicht.
Alex kam zu ihnen, und Faith machte ihm Platz. „Ist dein Name auch irgendwo, Großmutter?“
„Nein.“
Faith war froh, als es abermals an der Tür klopfte, sodass die Stille endete. Wo hätte Lydia ihren Namen
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