Das Haus in Georgetown
Dominik.“
Faith wusste, dass diese Geschichte sie monatelang beschäftigen würde. Jahrelang. Aber eine Frage war noch unbeantwortet. Die wichtigste von allen. Endlich stellte sie sie. „Alec, wo ist Hope jetzt? Bitte verraten Sie es uns. Es wird Zeit, für Klarheit zu sorgen. Sie ist jetzt achtunddreißig: Niemand kann ihr etwas tun.“
„Sie lebt. Sie ist glücklich.“ Alec verfiel in Schweigen.
„Bitte, ich habe eine Schwester“, sagte Faith. „Sie wissen nicht, was sie mir bedeutet. Hope hat eine Schwester ...“, sie warf einen Blick auf Pavel, „... und einen Bruder, und es ist nicht Ihre Aufgabe, sie abzuschirmen. Sie ist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren und zu entscheiden, was sie mit ihr anfangen will.“
Er saß regungslos da und dachte nach. Faith wagte kaum zu atmen. Schließlich stand er auf und ging zur Kommode. Aus der obersten Schublade holte er einen Stapel ordentlich gefalteter Kleidung und etwas, das darunter gelegen hatte. Dann stopfte er die Kleidung zurück und drehte sich um.
„Ich habe ein Foto.“ Er reichte es Faith.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Bild. Sie erwartete, ein Baby zu sehen, das Baby, das sie nur aus alten Zeitungen kannte. Stattdessen blickte eine Erwachsene sie an, eine schöne Frau mit braunem, gelocktem Haar. Mit einem Körper, der verriet, dass sie lieber gut aß als Diät hielt, mit einem herzlichen Lächeln und warmen dunklen Augen. In den Armen hielt sie zwei kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen.
„Das ist Hope?“ Sie konnte ihre Augen nicht von dem Foto abwenden, das ihr seltsam vertraut vorkam. Sie spürte, wie Pavel näher kam, um ebenfalls einen Blick darauf zu werfen. „Das ist meine Schwester? Aber ich kenne dieses Foto irgendwoher.“
„Sie schreibt Kinderbücher. Ich gehe manchmal in einen Buchladen und gucke sie mir an. Das habe ich von einem Buchumschlag abgerissen.“
Faith schaute hoch. „Nicht Karina Gililand?“
„Das ist sie.“
„Faith?“ Pavel nahm ihr das Foto aus der Hand. „Weißt du etwas über sie?“
„Als die Kinder klein waren, habe ich ihnen ihre Bücher vorgelesen. Wir haben sie alle. Ich habe sie sogar beim Umzug mitgenommen, um sie eines Tages meinen Enkelkindern zu schenken. Sie liegen auf dem Dachboden.“ Sie legte die Hände auf ihre Wangen. „Auf meinem Dachboden. In einer Ecke, direkt unter dem Balken, in den meine Großmutter ihren Namen eingeritzt hat.“
Sie fing wieder an zu weinen. Als Pavel sie in die Arme nahm, war nicht ganz klar, wer von ihnen beiden mehr Trost brauchte.
35. KAPITEL
Dieses Jahr war der Weihnachtsbaum der Hustons mit mundgeblasenen Glas-Eiszapfen und filigranem Baumschmuck aus Deutschland behängt. Außerdem war die drei Meter hohe Blaufichte mit Zimtstangenbündeln, die von rotem Taftband zusammengehalten wurden, und mit getrockneten Orangen- und Zitronenscheiben dekoriert. Lydia saß neben dem Baum und wartete auf Faith.
Die Uhr hatte bereits Mitternacht geschlagen, und obwohl Faith sich darüber im Klaren war, dass ihre Mutter nie vor dem frühen Morgen einschlief, war der nächtliche Besuch ungewöhnlich.
Lydia wusste, dass ihre Enkelkinder übers Wochenende nicht da waren, aber das konnte Faith’ Anruf vor einer Stunde nicht erklären. Sie hatte nicht gefragt, ob sie nach Great Falls kommen könne, sondern ihren Besuch einfach angekündigt.
„Du bist noch auf?“
Lydia drehte sich um und sah Joe in seinem Flanell-Morgenmantel in der Tür stehen. Er schien verstimmt, dass er heute Nacht nicht ungestört durchs Haus wandern konnte.
„Faith kommt.“
„Um diese Zeit?“ Er klang noch verstimmter. „Du hättest ihr bessere Manieren beibringen sollen.“
„Ihre Manieren sind perfekt, aber deine machen mir allmählich Sorgen.“
„Mir steht nicht der Sinn nach Gesellschaft. Sag ihr, dass ich zu Bett gegangen bin. Und sorg dafür, dass sie nicht zu lange bleibt. Wir haben morgen früh im ,Mayflower‘ ein Gebetsfrühstück.“
„Ich werde darauf bestehen, dass sie hier übernachtet.“
Er schnaubte, verschwand aber ohne weitere Kritteleien. Sie war erleichtert.
Im Haus war es still, als sie Faith’ Auto in der Einfahrt hörte. Dank Samuel konnte sonst niemand so weit vordringen. Sie öffnete die Tür, bat Faith herein, nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in die Garderobe, ohne dass viele Worte gewechselt wurden.
Faith folgte Lydia ins Wohnzimmer, wo winzige weiße Lichter im Baum blinkten. „Nimm Platz“, forderte Lydia sie auf.
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