Das Haus in Georgetown
noch vor uns allen wieder da sein wird. Aber wenn sie eine von uns hier antrifft, geht sie vielleicht wieder. Du könntest uns auf dem Handy anrufen, sobald sie auftaucht. Machst du das?“
Er zog die Brauen hoch; natürlich hatte er bemerkt, dass sie ihn zu beschwatzen versuchte. „Na gut.“Lydia berührte dankbar seine Schulter. Er war verwirrt; dass sie zu solchen Gesten im Stande war, hatte er nicht gewusst.
„Ich bin mir sicher, dass wir auf dich zählen können.“ Sie wandte sich ab und fragte sich, ob sie in ihren sechsundsechzig Jahren je etwas getan hatte, worauf sie stolz sein konnte.
Die Uni-Führung fiel aus. Eigentlich hatten sie nur mal kurz einen Blick ins Parterre von Colins Haus werfen wollen, aber nach einer weiteren kleinen Rauferei mit Bär waren sie irgendwie nicht mehr im Stande gewesen, sich zu der Besichtigungstour aufzuraffen. Selims Vater besaß ein Elektrogeschäft, und Selim hatte die Hälfte des Inventars angeschleppt, einschließlich eines riesigen Fernsehers, in dem im Augenblick eine Comedy-Serie lief, die Remys Vater zweifellos als Paradebeispiel für den amerikanischen Sittenverfall verdammt hätte. In seinem vorigen Leben jedenfalls.
Sie hing neben Colin auf einem ramponierten Sofa und schaute zwei College-Typen zu, die nach einer durchsoffenen Nacht eine Frau ins Bett zu kriegen versuchten.
„Und du hast das echt noch nicht gesehen?“ fragte Colin. „Das ist praktisch ein Klassiker.“
„Ne, ich kenn’s wirklich nicht.“ Remy starrte fasziniert auf den Bildschirm. Mit ihren Freundinnen hatte sie schon ein paar nicht ganz jugendfreie Filme geguckt. Sie war nicht völlig ahnungslos. Aber dieser Streifen, der sich über alles lustig machte, was man sie zu glauben gelehrt hatte, war von völlig anderem Kaliber.
Und sie schaute ihn mit einem Typen; sie saß direkt neben einem Typen und beobachtete Männer, die Frauen rumzukriegen versuchten. Colin schien sich nichts Schlimmes dabei zu denken.
„Wie alt bist du?“ Mitten in einer Szene, die in einem Stripclubspielte und ihr den Atem verschlug, wandte er den Kopf in ihre Richtung.
„Siebzehn.“ Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Die Lüge kam ihr ebenso leicht über die Lippen wie ihr Name.
„Oh, ich hab dich für älter gehalten. Bist du an der High School?“
Die nächste Lüge war genauso leicht. „Hm-m.“
„Dann fängt jetzt bald dein letztes Jahr an.“
„Hm-m.“ Nicht ganz so bald.
„Willst du eine Cola oder so?“ Als sie nickte, stand Colin auf und rekelte sich, dann verschwand er in der Küche. Er war süß, echt süß. Megan wäre bestimmt überrascht, dass sich ein College-Typ für sie interessierte. Sie konnte es kaum erwarten, es ihr zu erzählen. Dann fiel ihr ein, dass Megan nicht mehr in ihrer Straße wohnte.
Colin wohnte in ihrer Straße.
Ein Geräusch hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und sah einen Mann die Treppe herunterkommen. Colin hatte ihr berichtet, dass sie hier zu viert lebten. Außer Selim gab es noch einen Studenten namens Paul und einen gewissen Enzio, der die High School geschmissen hatte. Enzio war Verkäufer in einem der Klamottenläden auf der Wisconsin Avenue, und manchmal brachte er allen reduzierte Ware mit.
Der Typ, der jetzt herunterkam, trug Lederhosen mit zahllosen Reißverschlüssen und ein enges graues T-Shirt. Auf dem Treppenabsatz zündete er eine Zigarette an, klemmte sie sich aber nicht zwischen die Lippen.
„Und wer bist du?“
„Remy.“
„Die Freundin von irgendwem?“
„Ich wohne in derselben Straße. Colin und ich gucken uns einen Film an.“
„Yeah.“ Er streckte sich. „Colin schaut sich absolut alles an.“
Remy war fasziniert. Colin kam ihr vor wie eine ältere Ausgabe der Jungs, die sie kannte. Sauber geschrubbt, kurzes Haar, Klamotten von Abercrombie oder Banana Republic. Dieser Typ war völlig anders. Sein rabenschwarzes Haar hing ihm fast bis auf die Schultern, und sogar von weitem erkannte sie, dass er einen Ohrring trug. Er lächelte nicht. Er war wahrscheinlich nicht älter als Colin, sah aber aus, als sei er des Daseins bereits überdrüssig. Sie konnte das nachempfinden.
„Bist du Enzio?“ Er wirkte wie jemand, der von der Schule geflogen war.
„Yeah.“
Ihre gute Erziehung meldete sich zurück. „Nett, dich kennen zu lernen.“
„Brich dir keinen ab.“
Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Sie fühlte sich durch und durch wie vierzehn. Er kam die letzten Stufen herab und
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