Das Haus in Georgetown
trat mit voller Wucht zu, mit dem Absatz ihrer Stiefelette voran.
Sie fiel fast hin, konnte den Sturz aber gerade noch verhindern und trat erneut zu. Ein Loch tat sich auf, gezackt, klein und hässlich, aber für sie war es eine Art Tor zur Freiheit. So hatte sie sich noch nie gehen lassen. Das Adrenalin und eine seltsame Hochstimmung bemächtigten sich ihrer.
„Ich – bin – nicht – euer – kleines – Mädchen!“ Sie malträtierte die Wand weiter mit ihrem Stiefel, und das Loch wurde größer.
Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie aufgehört hatte, sich von Joe etwas zu erhoffen – dass er je der Vater sein würde, den sie so sehr brauchte. Sie war noch klein gewesen, zu klein, um ihn zu durchschauen, und hatte daher sich selbst die Schuld gegeben, dass er sich nicht um sie kümmerte. Sie war davon überzeugt gewesen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war nicht gut genug, hübsch genug, klug genug. Wenn sie besser, schöner, cleverer hätte sein können, wäre Joe ein besserer Vater gewesen.
Erst später, als sie alt genug war, um das Verhalten anderer Menschen zu analysieren, war sie mit sich selbst nicht mehr so hart ins Gericht gegangen. Sie hatte sich eingeredet, dass Hopes Entführung ihn traumatisiert habe. Nach dem tragischen Verlust seiner ersten Tochter hatte Joe sich von der Welt abgekapselt und sich nicht getraut, seine zweite Tochter zu lieben.
Wieder trat sie die Wand, die unter der Wucht ihres Absatzes immer stärker nachgab. Nein, sie machte sich da etwas vor. Nicht dass sie erwachsen geworden war, sondern dass sie David begegnet war, hatte ihr geholfen, Joes Verhalten neu zu beurteilen. Sie hatte ihren Mann mit den Kindern gesehen und zum ersten Mal einen guten Vater erlebt. David liebte die beiden abgöttisch. Er nahm dieVaterrolle ernst und tat nichts lieber, als sich Remys und Alex’ Sorgen anzuhören. Nicht, weil sie etwas ganz Besonderes waren – natürlich waren sie das! –, sondern einfach, weil er ihr Dad war.
Erst nach einigen Ehejahren hatte sie begriffen, dass sie an ihrem verkorksten Verhältnis zu Joe nicht die geringste Schuld traf. Es wäre Joes Pflicht gewesen, seine Tochter zu lieben und sie so zu akzeptieren, wie sie war. Er, der sich auf seine Pflichterfüllung sonst so viel einbildete, war an dieser Aufgabe jämmerlich gescheitert.
Noch einmal trat sie zu, mit weniger Wucht, aber sie hatte den neuen Zielpunkt schlecht angepeilt. Ihr Absatz, ja ihr ganzer Fuß rutschte tief in das ausgefranste Loch und verhakte sich.
Hüpfend versuchte sie sich zu befreien, aber irgendwann verlor sie das Gleichgewicht.
Sie saß auf dem Hosenboden und betrachtete das Chaos, das sie angerichtet hatte. Ihr Bein pochte, ihre Hände kribbelten. Sie fühlte sich befreit, als hätte sie irgendetwas aus ihrem Leben gekickt – zeitweilig wenigstens.
„Reg dich ab, Mom. Meine Güte!“
Faith blickte sich um und sah Remy in der Tür stehen. Ausnahmsweise hatte sie nicht an die Kinder gedacht. Sie hatte nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass sie sich später über das seltsame Loch in der Küchenwand wundern könnten.
„Ich nehme an, das sieht seltsam aus.“ Faith drehte den Fuß, um ihn zu befreien.
„Ja, allerdings.“
„Diese Wand soll ohnehin raus. Ich fürchte, ich war etwas übereifrig.“
„Krieg dich wieder ein, ja? Wenn ich hier Wände einträte, würdest du mir bis ans Lebensende Hausarrest erteilen.“
„Ich stecke offenbar fest.“ Faith drehte ihren Fuß in die andere Richtung.
Remy durchquerte die Küche, umfasste den Knöchel ihrer Mutter und zog ihn mit einem Ruck aus dem Loch. Sobald Faith frei war, rutschte sie von der Wand weg, aber Remy blieb dort stehen.
„Die Wand wird wirklich abgerissen?“
Faith betastete den Absatz, der sich offenbar ein wenig gelockert hatte. „Hm-m.“
„Gut!“ Remy ließ die Sohle ihres Turnschuhs neben dem Loch gegen die Wand sausen. „Hey, nicht schlecht.“
Aus der Wand war wieder ein Stück herausgebrochen. Remy trat noch einmal zu, um fortzuführen, was Faith begonnen hatte, und das Loch wurde größer.
Faith fragte sich, welchen Teil von Remys Leben die Wand darstellen sollte. Welcher es auch sein mochte, Remy schien ebenso viel Gefallen daran zu finden, ihn zu zerstören, wie Faith.
„Pass auf, dass du nicht auch noch stecken bleibst.“ Faith nahm neben ihrer Tochter Aufstellung, und mit vereinten Kräften weiteten sie das Loch beträchtlich aus. Wortlos traten sie abwechselnd zu, bis sie
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