Das Haus in Georgetown
interessierte, etwas unheimlich, aber zugleich tat ihr diese neue Vertrautheit gut.
Gerade war Lydia wieder hereingeschneit. Doch heute Nachmittag arbeiteten die beiden nicht. Sie hatten den Wasserkocher angeworfen, um sich Tee zu machen, und saßen im Garten. Ihre Blicke wanderten über die Fläche, die Alec der Tonnenmann und Alex unter Faith’ Aufsicht Stück für Stück vom Gestrüpp befreit hatten.
Faith hoffte, dass Lydia hier draußen ein paar Details aus ihrer Vergangenheit einfallen würden. „Weckt dieser Garten denn gar keine Kindheitserinnerungen in dir?“
„Ich weiß wirklich nicht viel mehr über die Geschichte dieses Hauses, als ich dir bereits erzählt habe.“
„Mutter, du musst mehr wissen, als du uns verraten hast. Als wir dir die Kätzchen gezeigt haben, wolltest du uns etwas über deine Mutter berichten, aber dazu kam es nicht.“
„Ich kann mich wirklich nicht mehr an viel entsinnen. Als ich aus dem Haus auszog, habe ich alles, was mit ihm zusammenhing, verdrängt. Das bereue ich.“
Ein derartiges Geständnis hatte Faith von ihrer Mutter nochnie gehört. Mit solch einer Offenheit hatte sie nicht gerechnet. „Wir alle vergessen mehr, als wir behalten.“
„Aber nicht alle bemühen sich, Dinge zu vergessen.“
„Du hattest guten Grund, nicht mehr an die Prospect Street denken zu wollen.“
„Ich habe das Haus für etwas verantwortlich gemacht, das in seinen Mauern passiert ist. Findest du nicht, dass eine solche Schuldzuweisung etwas zu weit geht?“
Faith wusste nicht, wie sie reagieren sollte. So hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt. „Mittlerweile scheinst du aber deinen Frieden mit diesem Ort gemacht zu haben.“
„Mir gefällt, was du hier tust. Du fegst die Spinnweben aus dem Gebäude und beseitigst allen überflüssigen Unrat aus deinem Leben.“
„David war mehr als ein Spinnennetz.“
„Fehlt er dir noch?“
Die Frage überraschte sie dermaßen, dass Faith zweimal ansetzen musste. „Ich ... Manchmal. Ich vermisse unsere Gespräche am Abend. Die waren wirklich gut.“
„Ich nehme an, er hat noch keine Arbeit gefunden?“
„Nein.“ Und auch seine Tochter nicht wiedergesehen.
„David ist ein guter Kerl.“
Faith überlegte, wie viele weitere Überraschungen die nächsten Minuten wohl noch bereithalten mochten. „Wie kommst du denn auf einmal darauf?“
„Manchmal benutze ich meinen eigenen Kopf. So wütend ich auch bin, vermag ich doch einen gewissen Anstand in seiner Entscheidung zu erkennen, sich der Wahrheit zu stellen.“
„Na ja, er wurde erwischt. So ganz freiwillig hat er es nicht zugegeben, oder?“ Faith schnitt eine Grimasse. „Aber das hätte erbestimmt bald getan. Die Lügerei hätte er nicht mehr lange durchgehalten.“
Die Tür hinter ihnen knallte zu, und Alex rannte auf den Tisch zu, an dem sie saßen. „Remy kommt gleich.“
„Ihr solltet doch zusammen bleiben“, ermahnte Faith ihn.
„Sie trödelt so. Sie ist noch irgendwo in unserer Straße.“
Seit Anfang September besuchten Remy und Alex die Mittelschule, die sich am westlichen Rand von Georgetown befand – Alex mit einem gewissen Optimismus, Remy nur, weil sie keine andere Wahl hatte.
Diese Einrichtung litt ständig unter Geldmangel – wie die meisten städtischen Schulen – und hatte nicht viel mit der Akademie gemein, in der die beiden den größten Teil ihrer Ausbildung genossen hatten. Aber die Mittelschule verfügte auch über einige Vorzüge. Die Schülerschaft stammte aus unterschiedlichen Schichten und Nationen und repräsentierte eher einen Querschnitt der Gesellschaft als das alte Umfeld von Faith’ Kindern. Alex, früher als Geißel jedes Klassenraums verschrien, stieß auf Lehrer, die freundlich zu ihm waren. Remy nahm die Welt plötzlich aus einer anderen Perspektive wahr.
„Solltest du nicht nach ihr sehen?“ fragte Lydia Faith.
„Sie wird schon auftauchen. Sie hat es nie eilig, nach Hause zu kommen ... oder morgens in der Schule zu sein.“
„Sie hat einen Test in den Naturwissenschaften verhauen.“ Alex war unfähig, irgendetwas für sich zu behalten.
Faith ging nicht darauf ein. Wenn es stimmte, war es das erste Mal. „Ich habe deiner Großmutter erklärt, wie hart du hier hinten im Garten geackert hast.“
„Ich und der Tonnenmann.“
Lydia warf ihm einen missbilligenden Blick zu, schwieg aber.Sie hatte Faith bereits darüber belehrt, dass man ihren Enkelsohn nicht einfach an der Seite eines Obdachlosen arbeiten lassen
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