Das Haus in Georgetown
direkt auf sie zuzugehen.“
Sie wechselte das Thema. „Und was haben Sie heute vor?“
„Wenn ich Ihnen das erklären würde, würden Sie’s nicht verstehen. Ich begreif’s nämlich selbst nicht. Aber verraten Sie das nicht unseren Anlegern.“
Leise lachend legte sie auf, und während sie Vorbereitungen für ihr vormittägliches Arbeitspensum traf, lächelte sie noch minutenlang. Als sie die Stahlwolle holte, um den Schrank abzuschmirgeln, in den ihre neue Spüle eingelassen werden sollte, erkannte sie, wie sehr dieses kurze Gespräch sie aufgeheitert hatte.
Die „Georgetown Regional Library“ war, wie alle Häuser in diesem Viertel, ein würdevolles und imposantes Gebäude. In der Bücherei befand sich der Peabody-Saal, in dem man Dokumente zur Stadtteilgeschichte einsehen konnte. In Faith’ Augen war hier der ideale Ausgangspunkt für ihre Recherchen.
Sobald sie sich orientiert und an einem Tisch niedergelassen hatte, wartete sie, bis eine der Bibliothekarinnen frei war. Sie wendete sich an eine afroamerikanische Frau in ihrem Alter, die eine sanfte Stimme hatte und sich gut mit der Sammlung auskannte. Faith umriss in knappen Worten, was sie vorhatte.
„Und die Anschrift lautete ...?“ Die Bibliothekarin war sehr dünn, aber hübsch. Ihre Augen leuchteten in einem kräftigen Dunkelbraun, und sie hatte einen herzförmigen Mund.
Faith nannte die Adresse, und plötzlich zeigte die junge Frau großes Interesse.
„Das Huston-Haus?“
„Ich bin Faith Huston Bronson“, bestätigte Faith.
„Dorothy Waylins.“ Die Bibliothekarin streckte die Hand aus; sie war zu taktvoll oder aber zu erfahren, um viel Aufhebens zu machen. „Wir haben einige Dokumente über Ihr Haus. Aber die, die mir einfallen, sind nicht sehr alt.“
Faith redete nicht um den heißen Brei herum: „Wahrscheinlich haben Sie viel Material über die Entführung meiner Schwester.“
„Ein ganzes Album voll, das unser Personal damals zusammengestellthat. Wenn Sie es anschauen möchten, reichen Ihr Führerschein, Ihre Kreditkarte und ein Eid auf die älteste Bibel unserer Sammlung als Zugangsberechtigung aus.“
Faith lächelte flüchtig. „Heute interessieren mich ältere Dokumente“
„Mal gucken, was ich finden kann. Wir haben Informationen über die Eigentumsverhältnisse, die Grundsteuer, die Baupläne und Pläne über die Umbauten. Außerdem gibt es hier Stadtteilkarten, Lagepläne ...“ Dorothy zuckte mit den Schultern. „Was Sie auch wollen, irgendwo haben wir es.“
Es klang fast zu einfach, aber Faith spürte, wie ihre Begeisterung wuchs. „Es sieht so aus, als würde ich einige Zeit an diesem Tisch verbringen.“
Dorothy nickte. „Aber ich muss Sie warnen, das kann süchtig machen. Bis Sie fertig sind, werden wir beide einander ziemlich gut kennen lernen.“
Die nächsten beiden Tage liefen nach demselben Muster ab: Faith schickte die Kinder in die Schule und machte sich dann an die Aufarbeitung der Schränke, bis sie das Gefühl hatte, dass ihr die Arme vom Körper fielen. Dann duschte sie und ging in die Bibliothek; auf dem Weg dorthin aß sie eine Kleinigkeit bei „Marvelous Market“. Zwar arbeitete sie gerne mit ihren Händen, aber die Stunden in der Bibliothek waren ihr die liebsten.
Freitagnachmittag um halb vier hatte Faith die Geschichte des Hauses grob umrissen. Es war 1885 für einen Mann namens Jedediah Wheelwright errichtet worden, der ihr Ururgroßvater war und eine Frau geheiratet hatte, die Candace hieß.
An Georgetown-Maßstäben gemessen, war das Reihenhaus geradezu jung. Auf dem Grundstück hatten früher bereits Häusergestanden, über deren Geschichte Faith noch nichts herausgefunden hatte. Sie wusste aber, dass Jedediah kein reicher Mann gewesen war. Wie viele seiner Nachbarn hatte er am Washington-Kanal gearbeitet, und um sich dieses Haus leisten zu können, das selbst für damalige Verhältnisse billig gewesen war, hatte er sich offenbar zu Tode geschuftet.
Nach Jedediahs frühem Tod hatte Candace sich ihren Lebensunterhalt als Hutmacherin verdient. Faith fand sogar eine kleine Anzeige in einer alten Tageszeitung, in der es hieß, der Wheelwright-Hutladen sei der Einzige, der für „Damen von Rang“ in Frage komme.
Nach Candace’ Tod ging das Haus auf ihr einziges Kind, Violet Atkins, und deren Mann James über. Violet und James wohnten dort bis an ihr Lebensende, und einige Jahre später zogen ihre Enkeltochter Lydia und ihr Gatte Joe ein.
Millicent, Lydias Mutter, war zwar in
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