Das Heerlager der Heiligen
können, die sich mit der Zeit der überbevölkerten Welt angepaßt hätte. Nun müssen wir offen sagen, daß unser Land im letzten Augenblick mit Widerwillen reagiert hat. Es wollte bei diesem Schreckenszustand, der schon lange bestand, keine anderen Rassen beleidigen. Außer einigen Gruppen von Idealisten und verantwortungslosen oder fanatischen Asozialen hat die Bevölkerung im Süden einfach ihr Land verlassen. Eine unserer reichsten Provinzen ist von den Einwohnern bewußt aufgegeben worden. Sie haben lieber alles verlassen, als mit andern zu teilen oder mit ihnen zusammenzuleben. So etwas ist nicht neu. Wir haben auch in der Vergangenheit Beispiele gehabt, an die sich unser Gewissen, das sei zu seiner Ehre gesagt, nur nicht gern erinnert. Aber da liegt der Kern der Sache, und ich, Ihr Präsident, der vom Volk gewählt wurde, muß dem Rechnung tragen. Ich weiß, daß der größte Teil von Ihnen es menschlich für untragbar hält, den waffenlosen und erschöpften Ausgehungerten gewaltsam entgegenzutreten. Das verstehe ich und dennoch erkläre ich ganz klar: Feigheit vor den Schwachen ist die wirksamste, durchdringendste und tödlichste Feigheit. Jeder ist geflohen in der Hoffnung, die Armee würde keine Skrupel haben. Allerdings glaubte man nicht ganz daran, weil ja alle geflohen sind.
Ich habe daher, als die ersten Nachrichten über die Massenflucht eingingen, der Armee den Befehl erteilt, an der Küste Stellung zu beziehen, so daß wir gegebenenfalls die Invasion verhindern und die Eindringlinge vernichten können. Das kann natürlich nur so vor sich gehen, daß wir mit oder ohne Gewissensbisse eine Million Unglückliche töten. In den vergangenen Kriegen gab es genug solcherart Verbrechen, aber damals haben die Gewissen noch nicht gezögert. Das Überleben ging vor. Im übrigen waren es Kriege unter Wohlhabenden. Wenn wir heute von Armen angegriffen werden, die als einzige Waffe die Armut einsetzen, und wenn wir dabei das gleiche Verbrechen begehen müssen, so sollen Sie wissen, daß uns niemand freisprechen wird und wir im wohlbehüteten Land für immer gezeichnet bleiben. Die dunklen Kräfte, die sich eifrig bemühen, unsere westliche Gesellschaft zu vernichten, wissen dies wohl, sind aber bereit, unter dem Schutz unseres gestörten Gewissens im Kielwasser der Eindringlinge zu schwimmen. Franzosen, Französinnen, liebe Landsleute, ich habe unserer Armee den Befehl erteilt, mit Waffengewalt der Landung der Einwandererflotte entgegenzutreten, der ich feierlich die letzte Chance verwehre, um Euch zu erhalten. Es handelt sich dabei um einen Auftrag …«
Die Stimme brach plötzlich ab. Mehr als dreißig Sekunden blieb der Satz im Äther hängen. In dieser ewig scheinenden Stille hörte man nur das beklemmte Atmen des Präsidenten. Als er wieder das Wort ergriff, war seine Stimme schwächer und langsamer, als ob er Mühe hätte, zu sprechen. Zögernd, wie von einer inneren Erschütterung befallen, fuhr er fort. Offensichtlich sprach er jetzt aus dem Stegreif. Später fanden Historiker den maschinengeschriebenen Text in den Archiven der Rundfunkanstalt. Wenn man ihn mit den gesprochenen Worten vergleicht, so hat es den Anschein, als ob die Willenskraft des Präsidenten mit einem Schlag zusammengebrochen wäre, wie eine unterminierte und zusammenstürzende Felswand. Entsetzt über die Worte, die der Präsident geschrieben hatte und ergriffen bei der Nennung der unmittelbar möglichen Folgen, verzichtete er nach dreißig Sekunden reiflicher Überlegung, um nur noch sein Herz und sein Gewissen sprechen zu lassen. Dreißig Sekunden hielt auch die Welt den Atem an. Danach zählte jedes Wort, und es war, als ob als letzter Gruß eine Handvoll Erde auf seinen Sarg geworfen wurde.
»… Es handelt sich um einen grausamen Auftrag, den auszuführen ich midi bestem Wissen und Gewissen von jedem Soldaten, jedem Polizisten und jedem Offizier fordere, von denen aber jeder genau prüfen soll, ob er ihn annehmen oder ablehnen will. Töten ist schwer, Wissen warum ist noch schwerer. Ich selbst weiß es, aber ich habe nicht den Finger auf dem Abzugsbügel und auch nicht wenige Meter von meiner Waffe entfernt den Körper eines Unglücklichen vor mir. Meine lieben Landsleute, was auch geschehen mag, Gott möge uns schützen … oder uns vergeben.«
38.
Am Ostermontag ging die Sonne um 5 Uhr 27 auf. Zwischen dem letzten Wort des Präsidenten der Republik (0 Uhr 10) und dem ersten rosigen Schimmer über dem Meer hatte der
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