Das Heerlager der Heiligen
Westen noch genau fünf Stunden und siebzehn Minuten Zeit.
Der Rede war entgegen der bisher immer noch beibehaltenen Sitte keine »Marseillaise« gefolgt, deren Text sonst von den debilen Kindern des Vaterlandes trotz seines anachronistischen Inhalts immer wiedergekäut wird. Als Oberst Dragasès Mozart hörte, der natürlich an Stelle von Rouget de Lisle trat, schloß er, daß das zitternde Frankreich endlich ein wenig Takt zeigte und daß es sich bei seiner Feigheit vielleicht etwas weniger geirrt hatte. Wenn der Mensch über die Bedeutung triumphiert, die er sich bislang zumaß, so ist dies nur ein blasser Reflex eines fast erloschenen Scheins, der noch in seinem Gedächtnis haften geblieben war, und man muß ihm nur noch die Totenglocke läuten. In dieser Nacht kamen zwei zu den gleichen Folgerungen.
Zunächst war es Minister Jean Orelle in Paris, der durch einen Telefonanruf beim Funk das Requiem senden ließ. Dies tat er deshalb, weil der Präsident im letzten Teil seiner Rede die Willenskraft verloren zu haben schien und das Unvermeidliche zu sehr in den Vordergrund gerückt hatte. Während seiner langen Laufbahn hatte der Minister zuviele Verleugnungen erlebt, zuviele dem Volk angekündigte Siege und Niederlagen und zuviele großzügige Verzichte oder wiederentdeckte Hoffnungen, begleitet von großartigen Lobgesängen, bei denen eine Flut von Worten genügte, um die Schande wegzuwischen. Man muß eben würdig sterben, wenn man zuviel erlebt und, sicher sehr klug, so manche Seite einer zu langen Geschichte umgedreht hat, ohne gewahr zu werden, daß es die letzten waren, wenn man plötzlich auf das Wort »Ende« stößt, das man in weiter Ferne wähnte, und der Weg dahin wunderbar erleuchtet war von Gerechtigkeit, allumfassender Liebe und Vollkommenheit. Wenn dieses Wort »Ende« so früh gekommen ist und auf das Herz wie ein tödlicher Schock wirkt, dann kann das nur Haß auslösen. Hat die Menschheit sich mitten im Labyrinth etwa im Weg getäuscht? Hat man etwa zuviele Türen geschlossen, die man um jeden Preis hätte offen halten müssen, statt Fallen und Fußangeln unter den Füßen der Blinden zu legen? Wieviele schmale, aber lebensfähige Auswege habe ich, Jean Orelle, durch mein Tun versperrt? Die ganze Welt hat mich gelesen, gehört, leidenschaftlich kommentiert, mich wie ein Orakel befragt und mich mit Ehrungen und Achtung überhäuft. Sie hat mein Worte getrunken und mein Tun als beispielhaft betrachtet. Sie hat so mein Leben, das aufrichtig wie ein Apostelgewissen und schön wie eine prophetische Vision war, zu einem Triumphzug gestaltet, während die Wahrheit auf blutigen Füßen dahinschritt und sich verachtet im Dorngestrüpp eines gewundenen Pfades verlor. Wieviele Tore, die zu einer Illusion führten, sind durch meine Mitwirkung zwei Kämpfern gleichermaßen geöffnet worden? Und nun! Ich hätte mich in acht nehmen sollen. Aber ich wußte es ja. Die Wahrheit marschiert immer allein. Wenn die Masse sich nach ihr richtet, dann deshalb, weil die Wahrheit sich bereits als falsch enthüllt hat. Ich, Jean Orelle, ich habe mich getäuscht …
Requiem! Mögen es alle hören und verstehen! Der Minister prüfte sorgfältig einen sowjetischen Revolver, Modell 1937. Er dachte wieder an vergessene Heldentaten: die Verteidigung Madrids (Spanien), die Befreiung von Paris (Frankreich), die Einnahme von Tschung-King (China), der Angriff auf Salisbury (Rhodesien), die Revolte im Ghetto von Atlanta (USA).
Der alte Revolver hatte diesmal keine Ladehemmung. Man fand den Minister vor seinem Schreibtisch sitzend; der Oberkörper lag vornübergebeugt, mit dem Kopf in einer Blutlache, die der offene Mund zu trinken schien, nachdem er sie zuvor von sich gegeben hatte. Auf einem Blatt Papier hatte er offenbar kurz vor seinem Tod die seltsamen Worte geschrieben: »Man kann auch allein den Durst stillen …« Weil er gewohnheitsgemäß solche dunklen Formulierungen gebrauchte, die sich gegen Ende seines Lebens bis zum Exzeß steigerten, da er daran eine Art seniler Freude hatte, so suchte man Schwierigkeiten, wo gar keine waren. Seine zahlreichen Biographen haben sich hinterher über dieses Rätsel den Kopf zerbrochen. Einer kam der Lösung ziemlich nahe, da er den Tod der Wahrheit gleichsetzte, von der man sich schließlich allein satt trinken kann. Aber niemand setzte sich derzeitig mit der Nationalhymne auseinander. Man hatte eine neue gefunden. Es war auch Zeit …
Dragasès hatte wenig Vorliebe für Mozart.
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