Das Heerlager der Heiligen
hatte, dann mußte man fast an ein Wunder glauben. So dachte wohl auch die Menge auf der Kommandobrücke der INDIA STAR und der Führungsstab der Flotte, der um den riesigen Christophorus herumstand. Sicher gibt es eine sinnvollere Erklärung. Als nämlich der gewaltige Donner des Geschützfeuers über dem Kopf der Mißgeburt ertönte, haben sich wohl in ihrem kranken Gehirn durch den Schrecken für einen Augenblick die seit der Geburt ausgeschalteten Nervenzentren gelöst. Daher der Schrei und die Bewegung. So erklärt man sich heutzutage zum Beispiel auch die Wunder von Lourdes und die Sonne von Fatima. Als Kollektivhypnose. Vielleicht ist auch die unterschiedliche Auslegung der Wunder ein Hinweis. Zwei Auffassungen stehen einander gegenüber. Der eine glaubt an Wunder, der andere nicht mehr. Wer Berge versetzen kann, hat seinen Glauben bewahrt. Er wird siegen. Beim andern hat der Zweifel jede treibende Kraft zerstört. Er wird besiegt werden.
Das mißgeborene Kind hatte den Kopf nach Süden gedreht. Der Mann in der blauen Bluse, der aus der Ruderkabine herauskam, wo er sicher die Karten studiert und die Marschroute berechnet hatte, machte auch ein Zeichen und zwar mit der Hand, und sein Blick traf den des ägyptischen Admirals. Trotz der sie trennenden Entfernung waren beide überrascht, daß jeder in den Augen des andern etwas wie eine Art Erleichterung entdeckte. Mit einem Schlag wich die Spannung und die Menge legte sich hin, wie Gras im Wind. Der nasse Graben zwischen beiden Schiffen wurde größer, dann flußbreit und schließlich zum Meer. Die INDIA STAR entfernte sich in Richtung Süden, gefolgt von der ganzen Flotte, deren neunundneunzig Kielwasser einen weiten Bogen von einem viertel Kreisumfang beschrieben. Eine Stunde später war sie am Horizont untergegangen. Dann verschwand das Torpedoboot. Seine Rückfahrt glich einer Flucht, ähnlich wie die jener europäischen Schiffe, die dem Kurs der Armada aus dem Weg gegangen sind, um sich nicht vom Mitleid übermannen zu lassen. An Bord stand nachdenklich der Admiral. Er befand sich ein wenig in der Haut eines Mannes, der ein Gespenst gesehen hatte und sich nun fragt, ob er es wirklich gesehen hat, und zugleich weiß, daß man es ihm nicht glauben wird.
Bei diesem Punkt unserer Erzählung war das Schicksal des Westens bereits besiegelt. Verweilen wir jedoch noch einen Augenblick. Der Weg durch den Suez-Kanal hätte vielleicht den Westen gerettet. An den Ufern des engen Kanals vor den Toren des Westens wären sicher manche objektive Zeugen gestanden, um die Wahrheit zu berichten, sie als Drohung zu empfinden und anhand von Beweisen diese abartige Verbindung gegen die Natur mitzuteilen. Es wären in Ägypten akkreditierte Diplomaten anwesend gewesen, dazu auf Reisen befindliche Geschäftsleute, sowie Touristen, Ausländer, Journalisten und Fotografen. Sie hätten diese andere Welt vorbeifahren gesehen, hätten sie anstarren und fast greifen können. Man stelle sich diese Konfrontation Kopf an Kopf mit diesen Massen vor. Man stelle sich weiter vor, diese ungeheuere leidende und stinkende Menschenmenge wäre in Bewegung geraten. Schon aus der Nähe gesehen, hätte diese auf ihren gespenstischen Schiffen vorbeifahrende Menge Schrecken eingeflößt. Diesen heilsamen Schrecken hätten etliche, von blinder Anteilnahme und moralischen Prinzipien nicht berührte Zeugen unseren westlichen Ländern rechtzeitig unter die Haut jagen können. Es wäre schwer gewesen, ihre Berichte zu unterschlagen und die Furcht auszutreiben, bevor sie um sich gegriffen hätte. Man hätte sich an den Konsul Himmans erinnert, der einsam am Ufer des Ganges gestorben war, weil er als erster alles vorausgesehen hatte. Man hätte das Verbrechen des Kapitäns Notaras besser verstanden oder den Warnungen eines Mannes wie Hamadura mehr Aufmerksamkeit geschenkt und das Tabu vom Verbrechen gegen die Menschlichkeit verboten. Wenn die Armada der letzten Chance den Suez-Kanal durchquert hätte …
Nun, jetzt fuhr die Armada in Richtung des Kaps der Guten Hoffnung. Der Westen hatte die letzte Chance verloren. Und wenn noch ein Hoffnungsfunke übrig geblieben sein sollte, so wird ihn die Geschichte von der »südafrikanischen Bedrohung« endgültig auslöschen.
22.
Der Fall Notaras hatte sich eben beruhigt – zu schnell nach Ansicht der Meisterdenker –, da kam der Fall »Südafrika« hinzu. Beim ersten floß Blut. Beim zweiten kam es nur zu Drohungen. Sie waren zwar deutlich, aber ohne
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