Das Herz aus Eis
der Welt ein Rätsel aufgab. Wissenschaftler und Kriminalisten, Theoretiker und Praktiker waren sich nur in einem Punkt einig: Der Mord an Valeria Thurner war der geheimnisvollste Fall der gesamten Kriminalgeschichte!
Man hatte die Leiche auf das genaueste untersucht, sämtliche Organe auseinandergenommen, die unsinnigsten Theorien trotzdem verfolgt – aber nichts führte zu einer plausiblen Erklärung. Schulterzuckend gab man auf.
»Nichts!« hießen die ständigen Meldungen, die auf Inspektor Jacklows Schreibtisch flatterten, und »Nichts!« waren auch die Meldungen aller Polizeistationen, die in Tag- und Nachtdiensten jeden Verdächtigen systematisch überwachten.
Der Captain ließ sich nochmals von Inspektor Jacklow umfassend informieren. Es war kein schillernder Bericht, er erhärtete nur noch durch die Vernehmung der Bühnenarbeiter die Täterschaft von Jack Fenton. Nach Aussagen eines Beleuchters hatte sich einmal ein blasser junger Mann ins Atelier geschlichen, und er hatte ihn hinausgeworfen. Auch die Mitteilung eines Kulissenarbeiters, wonach er in einer verlassenen Seitendekoration einmal eine erregte Auseinandersetzung zwischen Valeria Thurner und einem unbekannten Mann gehört habe, die mit einer schallenden Ohrfeige geendet hatte, brachte die Polizei nicht weiter.
Fred Jacklow und mit ihm sein Assistent Michael Collins mußten sich eingestehen, daß sie trotz ihrer kriminalistischen Begabung versagt hatten und weitere Anstrengungen zwecklos waren.
Die Akte Valeria Thurner/Jack Fenton wanderte in den Tresor der ungeklärten Fälle. Man überließ die Lösung des Rätsels schweren Herzens dem Zufall.
Auch die Zeitungen interessierten sich nicht mehr für dieses Verbrechen. Die Welt war voll mit neuen Sensationen. In Europa sah es nach Krieg aus, die amerikanische Armee rüstete auf, die Stahlaktien schnellten in die Höhe, neue Flugzeugtypen wurden in Neu-Mexiko ausprobiert, der Boxkampf um die Weltmeisterschaft wurde von Joe Louis gewonnen, der Geschwindigkeitsrekord des Autos wurde gebrochen, ein Seebeben gebar in der Südsee eine neue Insel, die Preise für Mais und Zucker fielen, Mr. James, der ›König der Baseball-Spieler‹, verunglückte tödlich, ein neuer Film mit Sonja Henie … Neue Schlagzeilen, neues Leben.
Der Fall Valeria Thurner geriet in Vergessenheit.
Nur einer wollte nicht aufgeben und bemühte sich, Licht in das Dunkel zu bringen – Patrik McJohn. Gleich nach seiner Entlassung hatte er auf eigene Faust versucht, aufgrund des vorliegenden Materials gezielte Ermittlungen anzustellen.
Doch auch Patrik McJohn scheiterte nach einem halben Jahr. Es gab einfach keine Hinweise mehr, die er hätte verfolgen können. Also widmete er sich erneut der anstrengenden Tätigkeit, das Vermögen seines Vaters sinnvoll zu verleben, ohne einmal vor dem Nichts stehen zu müssen, »… denn das ist die Kunst des Lebemanns, sein Kapital so anzulegen, daß die Ausgaben für seinen Luxus sich ausgleichen mit den Einnahmen seines mühelosen Geldverdienens!« Aber er vergaß Valeria Thurner nie.
Als das Jahr 1939 anbrach und die Gewitterwolken von Europa unheilverkündend auch über dem amerikanischen Kontinent auftauchten, als die Produktion der Geschütze höher wurde als die der Pflüge und Sämaschinen und die jungen Männer zur militärischen Ausbildung eingezogen wurden, dachte niemand mehr an den geheimnisvollen Tod der schönen Filmschauspielerin Valeria Thurner und ihren unbekannten Mörder Jack Fenton.
Ab und zu stand Inspektor Jacklow vor dem dicken Aktenbündel im Tresor und blätterte nachdenklich in den vielen, eng beschriebenen Seiten. »Ich verwette meinen Kopf, daß er nicht weit weg ist«, murmelte er dann. »Ich habe das Gefühl, daß er uns beobachtet und nicht aus den Augen läßt. Widerlich, so hilflos vor einem Verbrechen zu stehen!«
Und er schloß den Tresor wieder ab und warf die Schlüssel klirrend auf seinen Schreibtisch. Der Fall würde ihn sicher noch bis an sein Lebensende verfolgen.
6
Durch das mexikanische Bergland, entlang dem Gebirgsrücken der Sierra Mojada und dem Bolsón de Mapimi , der Steppenwüste des Hochlands entgegen, bewegte sich an diesem frühen Junimorgen 1939 ein merkwürdiger Zug. Vier Lastesel, aneinandergekoppelt durch dicke Lederlassos, trotteten hinter zwei Reisenden her, deren schmutzige und vielfach zerrissene Kleidung nicht gerade an angesehene und ehrliche Reisende denken ließ. Der erste Reiter, ein braungebrannter, schwarzhaariger Mann
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