Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
heranzukommen, da er diesem verletzlichen Jungen solch schreckliche Angst eingejagt hatte, und da er vor langer Zeit einmal ihr Kind, ihr Baby, gestohlen hatte ...
Was hieß, dass sie ihn hatte bestrafen wollen.
Und vielleicht konnte Jerry Wagner Gedanken lesen. Er entschied jedenfalls, nicht abzuwarten, bis sie mehr sagte, nur für den Fall, dass sie damit die Beweislage gegen sich erhärten sollte. Daher war jetzt vielleicht nicht der richtige Augenblick für die ungeschminkte Wahrheit aus dem Mund einer aufrichtigen Frau, die, soweit er wusste, noch nie einem anderen Menschen irgendetwas angetan hatte.
Bis sie einen Mann mit ihrem Wagen umgemäht hatte.
»Sie dachten, ein mehrfacher Mörder würde auf Sie zukommen«, half Wagner.
»Vermutlich.«
»Vermutlich?«
Grace nickte. Das war die Wahrheit, daran erinnerte sie sich jetzt wieder.
»Genau das habe ich gedacht«, nickte sie wieder. »Ich habe ihm gesagt, er soll verschwinden.«
Auch daran konnte sie sich erinnern.
»Aber er ist nicht zurückgewichen.«
»Nein. Ich dachte, er wäre Cooper.«
»Das ist alles, was ich im Augenblick brauche«, sagte Wagner.
Sie begannen mit der Vernehmung, und sie registrierte ihre Fragen, tat, was ihr Anwalt ihr geraten hatte, und sagte so wenig, wie es das gute Benehmen zuließ. Aber ihr Gehirn war jetzt offenbar zu benebelt, um klar zu verstehen, was die Mordermittler oder auch nur Wagner von ihr wollten.
Schließlich war sie schuldig.
Schuldig .
Das war der einzige Gedanke, der von Zeit zu Zeit aus dem Nebel aufstieg. Ihr Bewusstsein dieser Schuld, und der schreckliche Schmerz in ihrer Brust.
Um ihr Opfer. Um Sam. Um Joshua. Um Cathy und Saul, und um Claudia und David und Mildred, und Sara Mankowitz und all die anderen Leute, denen sie unwiderruflich geschadet hatte.
Kein Schmerz um sie selbst.
Aber um das Leben, das sie weggeworfen hatte.
59
7. Mai
Donnerstagabend bis Freitagmorgen.
Die längste, dunkelste aller Nächte.
Nach der Vernehmung in Doral hatten sie sie zunächst zur »Erfassung« ins Untersuchungsgefängnis in der NW 13th Street in Miami gebracht und danach in das Frauengefängnis in der NW 7th Avenue verlegt, wohin Jerry Wagner gekommen war, um sie ein zweites Mal zu sehen.
Grace hatte sein äußeres Erscheinungsbild zuvor, auf dem Hauptrevier von Miami-Dade, kaum wahrgenommen. Aber jetzt, über einen schmuddeligen Tisch hinweg, sah sie ihn genauer an und konnte sich gut an ihn erinnern. Sie entsann sich, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte, auf der Beerdigung von Cathys Tante. Sie erinnerte sich, damals gedacht zu haben, dass er vom Scheitel bis zur Sohle wie der typische vornehme Anwalt aussah, entschlossen und erfolgreich, mit einer gut geschnittenen, lockigen Frisur. Jetzt sah er kaum anders aus, nur älter, mit silbergrauen Strähnen im Haar, die Hände noch immer schön manikürt, die Augen noch immer von demselben durchdringenden Blau.
Um Cathy hatte er sich so gut gekümmert, wie er konnte.
Aber das war nicht dasselbe. Cathy war eine unschuldige Vierzehnjährige gewesen, und sie war eine vierzigjährige Psychologin und verheiratete Mutter.
Und sie war nicht unschuldig.
Was sie auch zu Wagner sagte. Noch einmal. In einem anderen Raum, an einem anderen Ort.
Einem Gefängnis.
»Wird man mich nach Hause gehen lassen?«, fragte sie.
»Nicht heute Abend«, antwortete der Anwalt.
Sie hatte geglaubt, darauf gefasst zu sein, aber es war dennoch wie ein Schlag in die Magengrube.
»Aber morgen«, fuhr Wagner mit fester Stimme fort, »werden Sie einem Richter vorgeführt. Ich hoffe, dass Sie mit der Auflage, sich zur Verfügung zu halten, auf freien Fuß gesetzt werden – oder gegen Hinterlegung einer Sicherheitsleistung. Eine Kaution, mit anderen Worten.«
»Was, wenn der Richter nichts davon gewährt?«
»Er oder sie wird es gewähren.« Wagners Lächeln war sanft. »Sie haben keinerlei Vorstrafen, Sie genießen hohes Ansehen in der Gemeinde, Fluchtgefahr besteht nicht, und Sie haben ein kleines Kind und Patienten, die auf Sie angewiesen sind.«
»Ich würde sagen, Letzteres bleibt abzuwarten«, erwiderte Grace nüchtern.
Wagner sammelte seine Unterlagen und Notizen ein und erhob sich.
»Morgen, Dr. Lucca«, wiederholte er.
»Ich glaube, man hat mich als Mrs. Becket beschuldigt«, sagte sie zu ihm.
Er lächelte wieder. »Ich weiß.«
»Was ist schon ein Name?«
»Das ist die richtige Einstellung!«, lächelte Jerry Wagner aufmunternd. »Bleiben Sie stark, Grace!«
Sie
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