Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
und Joshua nach Hause zurückzukehren und sich an eine Art gekünstelte Normalität zu gewöhnen, die ihr dann vielleicht wieder entrissen wurde.
»Ich bin mir sicher«, sagte sie.
Wenn man sie später gebeten hätte, den Gerichtssaal zu beschreiben, hätte sie es unmöglich gekonnt. Eine Zeit lang verlangte ihr eigener Herzschlag ihr mehr ab als ihre Umgebung; er hämmerte so beängstigend laut und schnell in ihren Ohren, dass sie fast glaubte, ohnmächtig zu werden. Aber dann sah sie sich um und fand Sam, heftete den Blick auf sein Gesicht, solange sie konnte, und fand die Fassung wieder, atmete gleichmäßig und blieb bei Bewusstsein.
Es lief genauso ab, wie Wagner ihr gesagt hatte.
Nur, dass er sie nicht vor der Presse oder den Fernsehkameras gewarnt hatte, die sie fast auf ihr Gesicht zoomen spüren konnte.
Vielleicht hofften sie auf Tränen, aber sie bekamen keine zu sehen. Nicht wegen irgendeines Gefühls von Mut, sondern weil sie innerlich zu erstarrt war.
Die Bedingungen ihrer Freilassung blieben unverändert.
Es fiel ihr schwer, zu sprechen, Wagner zu danken, aber er schien zu wissen, wie ihr zumute war, und er hielt für einen Moment ihre Hand, war unterstützend und stark.
Ihre Verhandlung wurde für den 8. November anberaumt.
Eine Anhörung vor der Verhandlung wurde auf den 11. Juni festgesetzt – früher als vielleicht anzunehmen, sagte Wagner, da der Richter in seinem Terminkalender noch Platz hatte.
Richter Arthur Brazen führte den Vorsitz, ein Mann, an den sich Grace danach kaum noch erinnern konnte, nur dass er weiße Haare hatte und eine Brille trug.
Sie wusste nicht, ob eine frühe Voranhörung etwas Gutes oder Schlechtes war.
Konnte sich nicht erinnern, was Wagner darüber gesagt hatte.
War noch immer zu erstarrt.
108
23. Mai
Es war lange her, seit David und Sam Becket zusammen einen Tagesausflug unternommen hatten, nur sie beide allein.
Als Sam seinen Vater nach der Anklageverlesung angerufen hatte, um ihm die Neuigkeit zu berichten und ihn zu fragen, ob er ihn am Sonntag nach Fort Myers begleiten würde, um Richard Bianchis Eltern einen Besuch abzustatten, hatte David zuerst Nein gesagt.
»Das ist ein Fehler. Wenn es nach hinten losgeht, riskierst du zu viel.«
Es war noch keine zwei Wochen her, seit Alvarez Sam angewiesen hatte, nicht mit Bianchis Familie zu sprechen, selbst wenn dieser Besuch »außerdienstlich« war. Wenn das Department Wind davon bekam, wollte er lieber nicht über die möglichen Konsequenzen nachdenken.
Er verdrängte diesen Gedanken.
»Die Bianchis hassen Grace schon jetzt dafür, dass sie ihren Sohn getötet hat«, sagte er. »Wie viel schlimmer kann ich es denn noch machen?«
»Was meint Grace?«
»Sie ist nicht gerade begeistert«, gab Sam zu. »Ich habe ihr erklärt, wir beide würden sanft und respektvoll vorgehen. Sie wollte wissen, wie ›sanft‹ wir denn vorgehen könnten, wenn wir Eltern überzeugen wollten, ihr eben erst verstorbener Sohn hätte mit einem Serienmörder gemeinsame Sache gemacht?«
»Meinst du nicht, da hatte sie recht, mein Sohn?«
»Ich meine«, sagte Sam, »dass ich eigentlich keine andere Wahl habe.«
Da sie nichts vereinbart hatten, gab es keine Garantie, dass die Bianchis überhaupt zu Hause sein würden. Auch wenn sie sonntags vermutlich nicht arbeiteten, konnten sie in der Kirche, beim Spaziergang oder sonst irgendwo sein. Sams schlimmstes Szenario war allerdings, dass sie mitten bei den Vorbereitungen für die Beisetzung ihres Sohns sein könnten, die für Donnerstag anberaumt war.
Je näher sie Fort Myers kamen, desto mulmiger wurde ihm zumute.
Das Haus war ein bescheidenes einstöckiges Vorstadthaus, klein, weiß gestrichen, mit einem roten Ziegeldach und einem gepflegten Garten.
Robert Bianchi öffnete die Tür.
Er trug ein dunkelblaues Polohemd über einer marineblauen Hose, war glatt rasiert, und seine dunkelbraunen Augen blickten interessiert und freundlich.
Bis er erfuhr, wer seine Besucher waren.
Schock und Fassungslosigkeit verwandelten seine Miene. Es ließ sich unmöglich sagen, wie viel der Mann in den letzten zwei Wochen vielleicht gealtert war, aber er sah auf jeden Fall älter aus als seine dreiundfünfzig Jahre.
»Wir haben Ihnen nichts zu sagen«, sagte er zu Sam, und dann wandte er sich an David. »Es tut mir leid, dass Sie den Weg umsonst auf sich genommen haben, Sir.«
»Nicht umsonst, hoffe ich, Mr. Bianchi«, erwiderte David.
»Ich kann Ihnen versichern, das war er.«
Eine Frau
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