Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
Zeit, die Jacobina gerne hier auf der Veranda mit einer Tasse Kaffee und einem Buch oder einem Brief von Jan verbrachte.
Jacobina nahm ihre Tasse auf, stellte sie aber sogleich wieder ab. Zwischen den Baumstämmen konnte sie eine Silhouette ausmachen, halb verborgen hinter den Nebelschwaden, und neugierig reckte sie den Hals. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie einen kleinen Jungen erkannte, aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe, den sie schon einmal hier gesehen hatte, an jenem Nachmittag im September. Reglos blieb sie sitzen und ließ dabei die Umrisse des Jungen nicht aus den Augen.
Offenbar wirkte das Haus aus der Ferne wie verlassen, denn dieses Mal wagte er sich aus dem Schutz der Bäume hervor, langsam und zögerlich wie scheues Wild. Plötzlich lief er los, blieb aber zwischendurch immer wieder stehen und vergewisserte sich, dass weiterhin alles ruhig blieb, bevor er zügig weiter über den Rasen trabte. Jetzt konnte Jacobina ihn gut erkennen, es war tatsächlich derselbe Junge. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf Jacobina, und er erstarrte. Aus großen Augen sah er sie an, rührte sich aber nicht. Auch nicht, als Jacobina lächelnd die Hand hob und ihm zuwinkte.
» Datanglah , komm«, rief sie leise und winkte ihn zu sich heran. Mit der anderen Hand nahm sie einen der onde-ondes vom Teller neben ihrer Kaffeetasse, süße, in Öl gebackene und in Kokosraspeln gewälzte Klöße aus Klebreis mit einer Füllung aus Palmzucker, und hielt ihn gut sichtbar hoch. »Na komm«, lockte sie den Jungen weiter. » Datanglah !«
Zaghaft bewegte er sich ein Stückchen vorwärts und blieb wieder stehen.
Ohne das Gesicht von ihm abzuwenden, erhob sich Jacobina langsam, stieg die Stufen hinab und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Als er sie argwöhnisch musterte, blieb sie stehen und bückte sich.
»Wo kommst du denn her, kleiner Mann, so ganz alleine?«, sprach sie ihn sanft auf Holländisch an. »Deine Mutter macht sich bestimmt Sorgen um dich.«
Der Junge wich mit dem Oberkörper zurück und fuhr sich mit dem Daumen über den Rippenbogen; er schien zu überlegen, was er tun sollte.
» Datanglah «, wiederholte Jacobina und zeigte ihm den onde-onde in ihrer Hand. »Komm mal her, ich hab etwas für dich.«
Verlangend glänzten seine Augen auf, und vorsichtig näherte sich Jacobina ihm weiter, blieb erneut stehen und ging in die Hocke. Den Kopf schräg gelegt, lächelte sie ihn an und hielt ihm die Süßigkeit auf der flachen Hand entgegen. »Da, schau, der ist für dich.«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen, und langsam kam er auf sie zu, mit Blicken immer wieder das Haus abtastend. Schließlich machte er eine gute Armlänge von ihr entfernt Halt. Zögerlich streckte er die Finger nach dem onde-onde aus; dann schnappte er ihn sich blitzartig und witschte schnell ein paar Schritte zurück.
Jacobina lachte auf, und auch auf dem Gesicht des Jungen erschien ein kleines Lächeln. Mit beiden Händen führte er den Kloß zum Mund, knabberte ihn probeweise an und schlug dann herzhaft die Zähne hinein.
» Sedap ? Ist das gut? Magst du das?«
Er gab einen genießerischen Laut von sich, während er mit offenem Mund kaute, und strahlte Jacobina an.
» Nama kamu siapa , wie heißt du denn?«, fragte sie ihn, während sie ihn eingehend betrachtete. Er war noch recht klein, wenn auch nur schwer auf ein genaueres Alter zu schätzen, vielleicht ein bisschen jünger als Jeroen, der im Dezember sechs werden würde, und von ähnlich schmaler Statur. Er wirkte nicht ausgehungert, aber seine Rippen und Schlüsselbeine zeichneten sich deutlich sichtbar unter seiner karamellbraunen Haut ab, und die Beinchen staken dünn wie Bambus unter dem Saum des Hüfttuchs hervor. Für ein einheimisches Kind hatte er erstaunlich markante Züge, und über der kräftigen, vorspringenden Nase schimmerten seine Augen eher grau als schwarzbraun.
»He, ich hab dich was gefragt«, sagte Jacobina in neckendem Tonfall und bewegte sich im Watschelgang in der Hocke auf ihn zu. » Nama kamu siapa ? Oder hast du keinen Namen?« Sie reckte die Hand vor und krabbelte ihm mit den Fingern über den nackten Bauch.
Hinter dem Teigklumpen in seinem Mund gab er ein vergnügtes Glucksen von sich, das kurz davor war, in ein Lachen umzuschlagen. Plötzlich jedoch versteinerte er und starrte aus aufgerissenen Augen an Jacobina vorbei zum Haus, wirbelte herum und rannte davon.
Stirnrunzelnd wandte Jacobina den Kopf, aber sie konnte nichts
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