Das Herz der Hoelle
hätte ich beinahe geläutet, um mich zu erkundigen, wie es ihnen geht. Sylvie ging nicht mehr in die Messe. Sie verübelte es mir, dass ich mich nicht auf ihr Spiel einließ.«
»Ihr ›Spiel‹? Das nennen Sie ein Spiel?«
»Hören Sie«, sagte er mit festerer Stimme. »Niemand konnte ahnen, dass es so weit kommen würde. Niemand, verstehen Sie?«
»Glaubten Sie, dass Sylvie diese Geschichte erfunden hat?«
»Diese Familie hatte ein Problem, das ist alles. Eine echte Psychose. Wer glaubt heutzutage noch an Besessenheit?«
»In der Römischen Kurie kenne ich einige.«
»Ja, gut. Aber ich bin ein Priester …«
»Ein moderner Priester, ich weiß. Weshalb ist Sylvie nicht ausgezogen?«
»Sie haben sie nicht gekannt. Stur wie ein Esel. Sie hatte sich krummgelegt, um dieses Haus zu erwerben. Es kam für sie nicht in Frage auszuziehen.«
»Ist sie noch einmal zu Ihnen gekommen?«
Mariotte nahm wieder einen Schluck. Wir näherten uns dem zentralen Moment der Geschichte.
»Ende September«, sagte er mit rauer Stimme. »Diesmal war sie ruhig. Sie schien … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll … Sie schien sich wieder gefangen zu haben. Sie hatte sich mit dem Verlust ihrer Tochter abgefunden. Sie sagte, dass Manon tot sei. Jemand anderer wohne jetzt bei ihr.«
»Zeigte Manon die gleichen Verhaltensauffälligkeiten?«
»Sie hatte auf eine Bibel uriniert, sich vor einem Nachbarn selbst befriedigt, und sie sprach Latein.«
Zwischen den Zeilen konnte man mehrere Wahrheiten lesen. Als Thomas Longhini von einem »Teufel« sprach, der Manon bedrohe, meinte er nicht Sylvie, sondern eine schreckliche Kraft, die seine kleine Freundin allmählich verwandelte. Die Initiative zu den »gefährlichen Spielen«, von denen Madame Bohn gesprochen hatte, waren nicht von Thomas, sondern von Manon ausgegangen. All dies hätte in einer Klinik von Spezialisten für Schizophrenie behandelt werden müssen. Mariotte fuhr fort:
»An jenem Tag hat mir Sylvie ein Ultimatum gestellt. Sie hat mir gesagt, wenn ich nichts unternähme, würde sie selbst handeln. Im ersten Moment habe ich nicht verstanden. Diese Geschichte überforderte mich vollkommen. Den ganzen Oktober hindurch hat sie mich bedrängt und mir immer wieder gesagt, dass ich keine Ahnung hätte. Dass ich kein echter Priester sei. Sie hat immer wieder eine Stelle aus den Briefen des Paulus an die Thessaloniker vorgetragen: › Dann wird der gesetzwidrige Mensch allen sichtbar werden. Jesus, der Herr wird ihn durch den Hauch seines Mundes töten und durch seine Ankunft und Erscheinung vernichten. ‹« Er holte tief Luft. »Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ein Exorzismus! Weshalb kein Scheiterhaufen? Jedes Mal redete ich auf Sylvie ein, dringend einen Psychiater zu konsultieren. Schließlich habe ich ihr gesagt, dass ich mich selbst darum kümmern würde. In gewisser Hinsicht glaube ich … Ich glaube, dass ich die Dinge beschleunigt habe. Ich habe nie die Wahrheit über Manon erfahren, aber Sylvie war reif für die Psychiatrie.«
Mariotte hatte recht, aber Sylvies Wahnsinn folgte einer Logik. Die Frau hatte nicht aus einer Laune, einem Panikanfall heraus gehandelt – sie hatte ihre Tat sorgfältig geplant. Nicht um einer Bestrafung zu entgehen, sondern um das Andenken an ihre Tochter zu bewahren. Damit niemand je ihr wahres Motiv erriet.
»Im November ist sie nicht mehr gekommen. Ich habe geglaubt, gehofft, dass alles wieder in Ordnung wäre. Was dann passiert ist, wissen Sie. Alle wissen es.«
Pater Mariotte verstummte wieder. Er war noch immer dabei, das ganze Ausmaß seiner Irrtümer zu ermessen. Mit kaum hörbarer Stimme fuhr er fort:
»Seit diesem Tag lebe ich im Zweifel.«
»Im Zweifel?«
»Ich habe keinen förmlichen Beweis gegen Sylvie. Schließlich sieht die Wahrheit vielleicht doch anders aus …«
»Weshalb haben Sie die Gendarmerie nicht unterrichtet?«
»Unmöglich.«
»Warum?«
»Sie wissen genau, warum.«
»Sie hat Ihnen diese Dinge unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses anvertraut?«
»Ja, jedes Mal. Als ich von dem Tod der Kleinen erfuhr, habe ich den Beichtstuhl eigenhändig mit einem Beil zertrümmert. Ich habe keinen neuen angeschafft. Ich konnte in dieser Kirche keine Beichte mehr hören.«
»Haben Sie aus diesem Grund diese Kabine im Flur
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