Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
keine Gnade.
Nikki liebte es, die Details jedes Mords zu rekapitulieren, sich noch einmal die strenge Folge der Ereignisse vor Augen zu führen, sorgfältig darauf bedacht, nichts auszulassen: die Ausgangssituation oder das »meet-and-greet«, wie Kenny es nannte; die angenehm harmlose Unterhaltung, die unweigerlich folgte; das leise Misstrauen, das sich im weiteren Verlauf in diese Gespräche schlich und allmählich in Angst umschlug und zuletzt in Panik, wenn Märchen von der grausamen Realität eingeholt wurden und Messer mit dem Glücklich-bis-ans-Lebensende kurzen Prozess machten.
Nikki hatte Märchen nie gemocht. Die Vorstellung einer wunderschönen Prinzessin in einem hauchzarten Kleid war ihr regelrecht widerwärtig. Sie hatte die blöde, weinerliche Cinderella gehasst und ihre gemeinen Stiefschwestern viel lieber gemocht; sie hatte zu der bösen Königin gehalten, nicht zu dem schalen Schneewittchen; und für Dornröschen, die hundert Jahre darauf gewartet hatte, dass ein schöner Prinz sie fand und rettete, hatte sie nur Verachtung übrig.
Genauso wenig wie sie an die Zahnfee, das Keksmonster oder den Weihnachtsmann geglaubt hatte, trotz größter Anstrengungen ihrer Eltern, sie von der Existenz dieser Wesen zu überzeugen. »Sieh mal, was der Weihnachtsmann dir gebracht hat«, konnte sie ihre Mutter noch mit ans Manische grenzender Begeisterung jeden Weihnachtsmorgen quieken hören, während sie mit der neuesten Barbiepuppe vor ihrer Nase herumwedelte. Gott, wie sie diese albernen Puppen mit ihren übertriebenen Outfits und ihren riesigen Plastikbrüsten gehasst hatte. Sie hatte eine angemessene Zeitlang Freude vorgetäuscht, ihnen dann die Designer-Klamotten vom Leib gerissen, die glänzenden blonden Haare abgeschnitten und schließlich den blöden Kopf ganz abgerissen. »O nein. Sieh nur, was mit deiner armen Barbie passiert ist«, klagte ihre Mutter unweigerlich jedes Mal, als ob der bedauernswerte Zustand der Puppe ein Akt Gottes gewesen sei.
Zum Glück hatte ihre Mutter eine enorme Gabe, das Offensichtliche zu übersehen.
Im Gegensatz zu ihrer Großmutter.
»Vielleicht solltest du mit ihr jemanden konsultieren«, hatte Nikki sie mehr als einmal zu ihrer Mutter flüstern hören, ein ermüdender Refrain, der immer häufiger erklang, je älter sie wurde. »Irgendwas stimmt nicht mit ihr.«
»Sei nicht albern. Es ist alles in Ordnung mit ihr«, widersprach ihre Mutter.
»Ich weiß nicht. Diese Geschichte mit dem Muttermal …«
»Kannst du dieses blöde Muttermal nicht einfach mal vergessen? Sie war noch ein Kind, Herrgott noch mal.«
»Und die schrecklichen Dinge, die sie sich über deinen Vater ausgedacht hat?«
»Das haben wir jetzt doch schon weiß der Himmel wie oft besprochen. Es war ein dummes Missverständnis. In der Schule kriegen sie die Köpfe vollgestopft mit Geschichten über gute Berührungen und schlechte Berührungen. Sie war durcheinander, das ist alles.«
»Ich sag dir, sie ist nicht wie andere Kinder. Ich kann es nicht genau benennen. Ich weiß nur, dass irgendwas … fehlt.«
»Du irrst dich«, sagte ihre Mutter.
Aber Nikki wusste, dass ihre Großmutter recht hatte. Und dass sie künftig vorsichtiger sein musste. Sie lernte, die Gesichter der Menschen zu studieren, ihre Reaktionen einzuschätzen und die Gefühle vorzutäuschen, die offensichtlich von ihr erwartet wurden. Gefühle, die andere Mädchen offenbar ganz natürlich empfanden. Gefühle, die sie einfach nicht hatte.
Sie gab vor, ihre Eltern zu lieben, obwohl sie ihr in Wahrheit gleichgültig waren; sie täuschte Interesse an ihren Spielkameraden vor, während sie sie eigentlich endlos langweilten; sie schloss leicht Freundschaften und verwarf sie mit noch größerer Bereitwilligkeit wieder, ersetzte alte Freunde durch neue. Welchen Unterschied machte das schon? Ein Mensch war so gut wie jeder andere. Jeder war ersetzbar.
Und als wenige Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag ihr Großvater starb und ihre Mutter deswegen die Party absagte, auf die Nikki sich schon seit Wochen gefreut hatte, unterdrückte sie ihren Ärger über die Rücksichtslosigkeit ihres Großvaters und schaffte es sogar, sich bei der Beerdigung ein paar beeindruckende Tränen abzuquetschen. »Sie muss ihn sehr geliebt haben«, hörte sie einen Trauergast murmeln und lächelte still vor sich hin. Gut gemacht, dachte sie.
Und dann blickte sie zu ihrer Großmutter, die neben dem offenen Sarg stand und sie beobachtete, und das Lächeln erstarrte
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