Das Herz Des Daemons
werden würde; und doch hatte er seine Zähne an meinem Hals gehabt und war im Begriff gewesen zuzubeißen. Es fühlte sich falsch an, vor ihm Angst zu haben. Ich strich mir die Haare hinters Ohr, die der Wind mir ins Gesicht geblasen hatte. Nun, genau genommen machte er mir keine Angst. Auch als er mich gegen die Mauer gedrängt hatte und die Zähne fletschte, hatte ich keine gehabt. Aber dieser Zwischenfall hatte mir ins Gedächtnis gerufen, was Julien tatsächlich war: kein Mensch, sondern ein Raubtier. Gefährlich. Tödlich, wenn er das wollte. Ein Killer, der sich in meiner Gegenwart in eine wunderschöne Schmusekatze
verwandelte; der sich durch die Art, wie er mit mir umging, bemühte, mich vergessen zu lassen, was sich unter der Oberfläche verbarg. Ich zog seinen Rucksack wieder höher auf die Schulter. Ich hätte das Ding in meinem Spind lassen sollen. Um Hausaufgaben zu machen, hatte er auch meine Bücher nehmen können. Nicht dass damit zu rechnen war, dass er heute überhaupt welche machte.
Und der Punkt war doch: Er hatte seine Zähne zwar schon an meiner Kehle gehabt, aber er hatte nicht zugebissen! Stattdessen war er davongelaufen. Er! Vor mir! Abermals hakte ich mir ein paar Strähnen hinters Ohr. Das alles hatte mir hart und brutal vor Augen geführt, dass selbst Juliens Selbstbeherrschung - so eisern sie auch war - bröckeln und zerbrechen konnte. Ich würde es nicht noch einmal vergessen. Aber es änderte nichts daran, was er war: der Junge, den ich liebte - und der mich liebte.
Ich rückte den Riemen meiner eigenen Tasche zurecht und steckte die Hände in die Jackentaschen. Was wohl Großonkel Vlad dazu sagen würde, wenn er erfuhr, dass Julien mit gefletschten Zähnen vor mir gestanden hatte? Besser nicht daran denken. Er durfte nichts davon erfahren! Julien war auf seinen Befehl als mein Leibwächter bei mir - offiziell zumindest und obwohl Onkel Vlad von unseren Gefühlen wusste, würde er Julien keine Sekunde länger in meiner Nähe dulden, wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass er zur Gefahr für mich werden konnte. Er war der Letzte, der davon Wind bekommen durfte! Warum musste mein Leben eigentlich so kompliziert sein? Ich seufzte. Schließlich öffnete sich der Zufahrtsweg zu der Lichtung, auf der das Hale-Anwesen stand. - Das Haus, in das ich mich schon verliebt hatte, als ich von meinem Onkel Samuel Gabbron zusammen mit unserer Haushälterin Ella und einem Rudel Leibwächter hierher nach Ashland Falls umgezogen worden war. Damals hatte ich keine Ahnung gehabt, dass genau dieses Haus früher meinen Eltern gehört hatte. Und dass sie hier - im Arbeitszimmer im ersten Stock - kurz nach meiner Geburt von Samuel ermordet worden waren. Genau jenem Samuel, den ich mein ganzes Leben für den Stiefbruder meiner Mutter und damit für meinen Onkel gehalten hatte. Die beiden großen, in das Holz des Fußbodens eingetrockneten Blutflecke gaben noch immer äußerst beredt Zeugnis von seiner Tat, und es fiel mir nach wie vor schwer, den Raum zu betreten. Denn letztendlich waren sie meinetwegen gestorben. Weil ich ein Halbblut war; zur einen Hälfte Mensch und zur anderen Lamia. Jene Kreaturen, zu denen auch Julien zahlte. Wunderschön, stark, schnell. Kreaturen, die sich vom Blut der Menschen ernährten, aber keine Vampire waren. Nein, sie wurden so geboren und machten irgendwann
um
ihr
zwanzigstes
oder
fünfundzwanzigstes Lebensjahr den Wechsel zu einem Lamia durch. Die Vampire wurden von ihnen erschaffen. U nd im Gegensatz zu den Geschaffenen konnten sie auch die Sonne ertragen.
Samuel war ein Vampir gewesen. Sehr alt zwar, aber nur ein Vampir, offenbar hatte ihm das nicht mehr gereicht und so hatte er meine Mutter und meinen Vater getötet. Weil ich - sobald ich meinen Wechsel zur Lamia hinter mich gebracht hatte - die nächste Princessa Strigoja sein könnte. Eine »Königin der Nachtwesen«, der man beängstigende Fähigkeiten nachsagte. Nur dass es diesen Wechsel für mich wahrscheinlich nicht mehr geben würde, nachdem Onkel Samuel vor Kurzem versucht hatte ihn zu erzwingen. Er hatte mich dabei an sich binden wollen, um so die Macht der Princessa Strigoja zu seiner eigenen zu machen. Julien war ihm in die Quere gekommen. Julien, der eigentlich nur in Ashland Falls war, um seinen verschwundenen Zwillingsbruder zu suchen und dabei dessen Auftrag zu Ende zu führen: die nächste Princessa Strigoja zu finden und sie vor ihrem Wechsel zu töten. Denn Julien war ein Vourdranj, ein
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