Das Herz des Ritters
stellen und ihn Auge in Auge zu vergelten.
»Herrin, habt keine Angst.« Es war der Vagabund, an dem sie vorübergekommen war. Er trat in den Lichtschein, und sie erkannte, dass er kein Betrunkener war, sondern zu ihrem Clan gehörte. Ein Assassine, der in seiner Verkleidung die Straßen überwachen sollte. Seine Anwesenheit bedeutete, dass ihr Vater nicht weit sein konnte.
»Bringt mich zu ihm«, verlangte sie. »Ich muss meinen Vater unverzüglich sehen.«
Der Mann führte sie eine angrenzende Gasse hinunter, in der es faulig nach Abfall stank. Hier gab es kein Licht; nur der Mond erhellte gelegentlich die schattenhafte Gestalt des Fida’i, der sie durch die pechschwarze Dunkelheit geleitete. Sie barg die Nase in ihrem Ärmel und stützte sich an den Mauern der engen Passage ab, die zu übel schien, um als Wohnstätte für menschliche Wesen zu dienen. Zahirah wusste sofort, warum ihr Vater ausgerechnet diesen Ort als Hauptquartier in Askalon erwählt hatte. Nur ein sehr entschlossener Besucher würde sich so weit in die Kloake der Unterstadt hineinwagen. Sinan war hier so ungestört wie ein Mistkäfer in einem Berg voller Fäkalien.
Etwa ein halbes Dutzend Schritte vor ihr drängte sich unauffällig eine Hütte ans Ende der Gasse. Wie eine alte Frau, die sich über ihren Kessel beugt, ragte das viereckige kleine Gebäude in einem Klumpen aus Sandstein und zerbrochenen Ziegeln aus der Straße auf. Zahirahs Begleiter blieb vor der morschen Holztür stehen. »Beeilt Euch, Herrin«, flüsterte er und scheuchte sie durch die Tür, die er für sie aufhielt, ins Haus.
Sie bückte sich unter seinen Arm durch und betrat den pechschwarzen Raum. Keine Lampe, kein Geräusch, nur schwarze Stille empfing sie. Wie angewurzelt blieb sie stehen und fragte sich, ob sie in eine weitere Falle getappt war, doch dann sagte der Assassine: »Hier entlang, Herrin. Gleich werdet Ihr besser sehen können.«
Argwöhnisch folgte sie dem Rascheln seines Gewandes. Sie hörte das leise Ächzen von Lederangeln, dann ergriff er ihre Hand. »Wir gehen nach unten, Herrin. Bleibt dicht bei mir und achtet auf Eure Schritte.«
Zahllose Stufen stiegen sie nach unten, irgendwann spürte Zahirah, dass die Luft kühl und feucht wurde. Aus der Ferne hörte sie das seufzende Heulen des Windes. Es klang, als wütete ein Sturm. Allmählich begannen sich Zahirahs Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Umrisse nahmen Gestalt an: ein Bogen aus grob behauenen Steinen, die flachen Stufen unter ihren Füßen, die schmalen Schultern ihres in Lumpen gekleideten Begleiters. Und vor ihnen, noch eine Ewigkeit entfernt, wie es schien, flackerte ganz schwach ein Lichtstrahl auf.
Wie ein Leuchtfeuer winkte die orange Flamme einer Fackel sie zu sich. Sie folgten dem spärlichen Schein, und als sie näher kamen, vernahm sie außer dem Lärmen des Windes auch Stimmen. Leise arabische Worte drangen an ihr Ohr. Sie erkannte die Stimme ihres Vaters unter ihnen, und Furcht stieg in ihr auf, weil sie ihm schlechte Nachrichten überbringen musste.
Unvermittelt endete die Treppe, und sie standen auf einem glatten, ebenen Boden. Zahirahs Sandalen sanken bei jedem Schritt ein und ihr wurde bewusst, dass sie über Sand liefen und das Tosen, das sie umgab, wohl eher von Wellen herrührte und nicht vom Wind. Offenbar befanden sie sich in der Nähe des Meeres. Je tiefer sie in die Höhle eindrangen, desto mehr roch es nach Salz. Der Geruch hing in der Luft und verstopfte ihre Nase. Sie musste niesen, und das Gespräch in der Ferne verstummte abrupt. Die plötzliche Stille wurde von dem Klirren von Waffen unterbrochen, die aus ihren Scheiden gezogen wurden.
»Wer ist da?«, rief eine bedrohlich klingende Stimme auf Arabisch.
»Jalil«, antwortete Zahirahs Begleiter. »Ich bringe die Tochter des Meisters.«
Sie umrundeten einen Felsen und dann standen plötzlich Sinan, seine drei Leibwächter und mehrere Männer mit gezogenen Waffen vor ihnen. Assassinen, allesamt, und ein nervös aussehender Muslim, der vermutlich der Verbündete des Assassinenkönigs in der Stadt war.
Sinans Blick ruhte auf Zahirah, doch das Wort richtete er an Jalil. »Du hattest den Auftrag, Wache zu stehen und dafür zu sorgen, dass uns niemand hier entdeckt. Erinnerst du dich noch an diesen Befehl?«
Der Mann neben ihr trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Ja, Meister.«
Sinan wandte sich nun ihm zu und bedachte ihn mit einem solch kalten Blick, dass Zahirah unwillkürlich ein Schauer über den
Weitere Kostenlose Bücher