Das Herz des Yoga: Körper, Geist, Gefühle - Die drei Säulen der Transformation
krampfhaft. Die meisten von uns denken nie darüber nach, aber das Schluchzen ist wirklich eine erstaunliche Sache. Sie fühlen sich ganz normal, und dann bekommen Sie plötzlich eine sehr traurige Nachricht: Sofort verkrampfen Ihre Lungen, Wasser tritt aus Ihren Augen, und der Körper begibt sich in einen völlig neuen Zustand. Wenn Sie zu weinen anfangen, bekommen weder Ihr Magen noch Ihre Leber Krämpfe, Ihre Lungen hingegen schon. Wir nennen das »Schluchzen«. Es ist also ganz offensichtlich, dass unsere Lungen unseren Kummer zum Ausdruck bringen – und ebenso stehen sie für Inspiration. Der chinesischen Medizin zufolge sind Kummer und Inspiriertsein die beiden Gefühle, die von den Lungen beherbergt, gespeichert und zum Ausdruck gebracht werden. Inspiration geschieht zum Beispiel, wenn wir plötzlich rasch und tief einatmen und sagen: »Schau mal, wer da ist!« Das lateinische Wort inspirare bedeutet einhauchen, eingeben, begeistern.
»Aaaah! Ich habe eine Idee. Ich bin ja so begeistert!« Damit geht ein Einatmen einher. Auf Traurigkeit, Verzweiflung und Verlust reagieren wir mit Ausatmen. Das lateinische Wort exspirare bedeutet aushauchen. In der Welt der Medizin bedeutet es auch »den letzten Atemzug tun«.
Warum haben manche von uns Angst davor, tief zu atmen?
Tief im Innern wissen wir, dass unser Atem irgendwie mit unseren Gefühlen verbunden ist. Wenn wir stark gestresst und innerlich voll von unausgesprochenem Kummer, unterdrückter Wut oder Angst sind, jagt uns tiefes Atmen Angst ein. Und deshalb halten wir den Atem flach und kurz und unregelmäßig, ganz gleich wie oft uns unser Yogalehrer anweist, tief zu atmen. Wir haben das Gefühl, sonst die Büchse der Pandora zu öffnen; wir befürchten, unser Leben könnte auseinanderfallen, wenn wir tief atmen. Doch das Gegenteil ist richtig. Wenn wir einen tiefen Atemzug machen, fallen wir tiefer ins Leben.
Wenn ich in kleineren Ortschaften Workshops abhalte, habe ich im Allgemeinen wenig Mühe, die Schüler dazu zu bewegen, tief zu atmen. Bei Workshops in größeren Städten hingegen, wo der Stress vorherrscht, kommt es mir so vor, als wollte ich ihnen die Zähne ziehen, wenn ich versuche, die Schüler zum tiefen Atmen zu bewegen. Im heutigen Stadtleben herrscht so viel Stress und so viel Konkurrenzdenken vor, und um die Herzen der Leute hat sich so viel gefrorene Energie angesammelt, dass es einen gewaltigen Sprung bedeutet, dies in einen neuen, gesunden Zustand umzuwandeln. Für manche ist das Öffnen der Brustregion der schwierigste Teil ihrer Yogapraxis, weil hier unser Kummer und unsere alten Erinnerungen bewahrt werden. Sich zu öffnen würde bedeuten, dass man es mit einer neuen Persönlichkeit und einem neuen Leben – einer gewaltigen Transformation – zu tun bekommt. Und das ist es, was wir gleichzeitig anstreben und fürchten. Es ist, als würden wir gleichzeitig aufs Gaspedal und auf die Bremse treten.
Wenn wir also mit tiefen Atemzügen verbundene Übungen durchführen, gelangen wir an unsere begrabenen Gefühle, und sie steigen an die Oberfläche. Unsere erste Reaktion kann dann sein, dass wir Angst haben, die Kontrolle zu verlieren und einen Tränenstrom auszulösen, der nie mehr versiegt. Bleiben wir aber beharrlich und halten durch, könnten wir entdecken, dass diese Erfahrung uns keineswegs am Boden zerstört, sondern uns tatsächlich aus dem Gefängnis unserer Vergangenheit befreit. Wir bekommen allmählich das Gefühl, dass wir ein großes Gewicht von unserer Brust nehmen. Uns »fällt eine Last von der Seele«.
Manchmal haben unsere unterdrückten Gefühle auch mit einem in der Kindheit erlittenen Schmerz oder Trauma zu tun. Das Trauma war vielleicht so tief, dass es sogar dann, wenn man eine Therapie macht, lange Zeit braucht, um zu heilen, vor allem wenn es um sexuellen Missbrauch oder körperliche Misshandlung von Kindern geht. Doch für die meisten von uns sind die frühen Erfahrungen von Schmerz – wie zum Beispiel vernachlässigt, herumgeschubst oder beschämt worden zu sein – zwar sehr real, aber nicht derart extrem. Als Kinder hatten wir keine Möglichkeit, unsere Gefühle zu verarbeiten, also haben wir sie unterdrückt, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten. Als Erwachsene haben wir es uns dann zur Gewohnheit gemacht, unsere Gefühle zu unterdrücken, und schließlich vergessen, dass sie überhaupt da waren.
Blickwinkel
Etwas, das uns im Alter von fünf Jahren ungeheuerlich groß und gewaltig erscheint,
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