Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
kleiner – und schließlich war er verschwunden.
4
E mma legte den Ellbogen auf die Tür und stützte den Kopf in die Hand. Das stetige Holpern des Landrover und das Dröhnen des Motors hätten sie schläfrig gemacht, wenn nicht die Bilder von den Ereignissen des Tages ihr scharf und lebhaft vor Augen gestanden hätten.
Sie mussten einige Umwege um tiefe Gräben machen und einmal sogar ein Stück zurückfahren, aber am späten Nachmittag begann die Landschaft, sich zu verändern, und aus der flachen, steinigen Wüste wurde Buschland. Daniel fuhr auf ein Massai-Dorf zu: eine Ansammlung grauer Lehmhütten, die im Kreis angeordnet waren, umgeben von grauem Dorngebüsch, an denen Esel kauten. Als sie näher kamen, sah Emma auch Rinder und Ziegen und rote, wollige Schafe mit breiten, flachen Schwänzen – die erwachsene Ausgabe von Daniels Lamm. Die Hirten hoben sich mit ihren roten Decken vom farblosen Hintergrund ab. Daniel grüßte sie, als sie vorbeifuhren, und sie reckten ihre Speere oder Hirtenstäbe in die Höhe.
»Wie kann hier nur jemand leben?«, fragte Emma, als sie das Dorf hinter sich ließen. Es schien kein Futter für das Vieh zu geben, keine Gärten, kein Wasser.
»Wir wissen, wie es geht«, erwiderte Daniel nicht ohne Stolz. »Wir können verborgenes Wasser finden und Stellen, an denen Gras wächst. Selbst in der nyika können wir das. Wir haben es von unseren Brüdern gelernt.«
»Sie sind Massai …« Emma versuchte, sich vorzustellen, wie Daniel in einer Wolldecke, mit Perlen und einem Speer wie die Männer, an denen sie gerade vorbeigefahren waren, aussehen würde. Es war einfach und schwierig zugleich. Er schien sich wohl zu fühlen in seiner westlichen Kleidung, mit dem iPod in der Tasche. Und er hatte natürlich auch einen Universitätsabschluss und leitete ein wissenschaftliches Forschungsprojekt. Aber er war so groß wie die Massai-Männer, an denen sie vorbeigefahren waren, und seine Haltung war aufrecht und anmutig. Und dann seine Fähigkeit, Spuren zu lesen; er hatte seine nackten Füße fast liebevoll auf die Erde gedrückt.
Daniel lächelte sie an, und die Fältchen um seinen Mund wurden tiefer. »Meine manyata ist nicht weit von hier entfernt. Wenn wir dorthin führen, würden Sie meine Brüder, meine Vettern, meine Onkel und Tanten sehen – viele Leute. Sie würden meinen Vater kennenlernen und auch meine Mutter.« Seine Stimme klang weich, als er von seiner Familie sprach, und seine Augen leuchteten. »Aber heute können wir sie nicht besuchen. Wenn Sie eine manyata besuchen, müssen Sie Zeit für ein Willkommensfest mitbringen.«
Emma erwiderte sein Lächeln höflich. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und ihr Magen fühlte sich hohl an, aber sie war trotzdem froh, dass sie keine Zeit für ein Festmahl hatte. Sie wollte nicht in die Lage kommen, Essen abzulehnen oder das Risiko eingehen zu müssen, Bruzellose von nicht abgekochter Milch zu bekommen. Wehmütig dachte sie an das Frühstück, das sie heute Morgen im Hotel zu sich genommen hatte. Weichgekochte Eier, Toast, warme Croissants und Papaya-Marmelade. Die weißgedeckten Tische, der Duft nach frisch gekochtem, einheimischem Kaffee, die Vasen mit tropischen Blumen hatten den Eindruck noch verstärkt, dass die Mahlzeit zu einer völlig anderen Welt gehörte.
»Ich hoffe, wir bekommen in Malangu etwas zu essen«, sagte Emma. »Ich bin ziemlich hungrig.«
»Ja, das werden wir«, beruhigte Daniel sie. »Aber zuerst gehen wir zur Polizei. Der Tag wird schon fast vorüber sein, bis wir da sind. Jetzt können Sie das hier essen.« Er griff in das Seitenfach an seiner Tür und zog eine Tüte Karamellbonbons heraus. »Das ist mein Geheimvorrat, nur für Notfälle. Ich muss sie vor Ndugu verstecken.« Sein Gesicht war ernst, aber in seiner Stimme klang ein Lachen mit.
Emma nahm ein Bonbon. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie es auswickelte. Eifrig lutschte sie daran und spürte, wie der Zucker ihr neue Energie gab.
»Bald sind wir auf der Straße«, sagte Daniel. »Dort oben am Hügel.«
Als sie den Ort erreichten, auf den er gezeigt hatte, sah man das blasse Band einer Staubpiste zwischen den Büschen. Daniel musste beschleunigen, damit der Landrover den Wall am Rand überwinden konnte. Er bog links auf den vergleichsweise glatten Weg ein. Dann lehnte er sich entspannt zurück und steuerte nur noch mit einer Hand. Nach ein paar Kilometern gelangten sie an einen Fluss, ein silbernes Wasserband
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