Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
mitgenommen.
Die Frau des Eigentümers hatte sie zu einem kalten Getränk ins Haus eingeladen. Drinnen hatte ein Teppich aus Löwenfell auf dem Boden gelegen. Der Kopf war noch dran gewesen, ausgestopft, das Maul aufgerissen, so dass man die gewaltigen, elfenbeingelben Zähne und die Spitze der dunkelrosa Zunge sah. Man hatte Glasaugen eingesetzt, die blind in den Raum starrten. Angel dachte an die Frau, die mit ihren hohen Absätzen Dellen im goldbraunen Fell hinterlassen hatte, als sie ihnen das Tablett mit den Getränken brachte.
Die Knochenberge waren etwa alle gleich groß, der Brustkorb entsprach dem der Löwin. Der fünfte Kadaver jedoch war viel kleiner. Der Brustkorb war zu einem Sammelsurium feiner Knochen zusammengedrückt. Der Schädel hing noch an der Wirbelsäule. Er lag auf der Seite und zeigte die obere Hälfte des Gebisses – die perfekten, nadelscharfen Zähne, wie Angel sie sah, wenn die Löwenjungen gähnten. Angel spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Niemand wollte das Fell dieses kleinen Löwen an der Wand haben, und doch war auch er getötet worden. Zugleich war sie jedoch erleichtert, dass er nicht allein zurückgeblieben und vor Hunger oder durch die Zähne eines anderen Raubtieres umgekommen war.
Als die Löwin an allen Knochenhaufen vorbeigegangen und ihre qualvolle Erkundung vorüber war, blieb sie stehen und starrte in die untergehende Sonne. Sie hob den Kopf und öffnete das Maul. Das Stöhnen wurde zu einem Brüllen. Ihre schwarzen Lefzen zogen sich von ihren Zähnen zurück, und ihre Kehle war wie eine dunkle Höhle.
Der Laut brach aus ihr hervor und rollte durch die Luft. Sie bewegte langsam den großen Kopf. Als das Brüllen erstarb, schüttelte sie sich. Dann füllte sie ihre Lungen erneut und brüllte wieder. Dieses Mal war das Geräusch sogar noch lauter. Die Jungen wichen mit angelegten Ohren zurück. Mdogo presste sich an Angels Beine, und sie spürte, wie sein Herz raste.
Die Löwin achtete nicht auf Angel oder ihre Jungen. Immer wieder brüllte sie, und die Wut in ihrer Stimme mischte sich mit Verzweiflung. Angel konnte fast hören, wie sie flehend immer wieder dasselbe Wort brüllte.
Nein! Nein! Nein …
Sie wäre am liebsten zu der Löwin gegangen und hätte sie berührt, um den Schmerz zu durchbrechen. Aber sie wagte es nicht. Wer auch immer das getan hatte – professionelle Jäger oder Wilddiebe, Europäer oder Afrikaner –, es waren Menschen gewesen wie sie. Aber, dachte Angel dann, als die Löwin ihr geholfen hatte, hatte sie schon von dieser schrecklichen Szene gewusst. Sie hatte sich diesem Ort genähert, als ob sie ein Grab besuchen würde. Es hatte einen ersten Moment der Hoffnung gegeben, dass der Alptraum vielleicht doch nicht wahr gewesen wäre – aber danach hatte sie nicht schockiert gewirkt, sondern nur Trauer, Schmerz und Wut gezeigt.
Angel hockte sich zu den Löwenjungen. Ob sie wohl auch schon einmal hier gewesen waren? Sie wusste nicht, wann die anderen Tiere getötet worden waren, ob es vor der Geburt der Löwenjungen gewesen war oder danach. Aber auf jeden Fall hätte sie ihnen am liebsten Augen und Ohren zugehalten. Sie konnte nur hoffen, dass sie nichts verstanden.
Die Sonne hatte fast den Horizont erreicht. Angel hielt den Atem an. Die Löwin stand still und groß im goldenen Licht der letzten Sonnenstrahlen. Sie sah aus wie ein Geschöpf des Feuers.
8
D as Morgenlicht war dünn und trüb. Im Hof stolzierten zwei Hähne umher und krähten laut, wobei jeder versuchte, den anderen zu übertrumpfen. Emma stand an der Hintertür und flocht sich die Haare zu einem Zopf – sie würde so ordentlich wie möglich aussehen, wenn sie dem Inspektor aus Arusha gegenüberstand. Gerade wollte sie sich zu Daniel an den Frühstückstisch setzen, als Mosi am Tor auftauchte.
Sie wartete, um ihn zu begrüßen. Während er näher kam, musterte er sie von Kopf bis Fuß, als wolle er feststellen, ob in seiner Abwesenheit etwas Skandalöses stattgefunden habe.
Emma winkte ihm fröhlich zu. »Guten Morgen, Mosi.«
»Guten Morgen«, erwiderte er verlegen.
Emma lächelte ihm nach, als er zur Küche eilte. Sie dachte an den Abend, den sie mit Daniel verbracht hatte. Als Mosi gegangen war, war die Stimmung zunächst ein wenig angespannt gewesen. Jeder Blick und jede Geste waren auf einmal voller Bedeutung. Aber nachdem jeder eine große Flasche Kilimanjaro-Bier geleert hatte, konnten sie entspannter miteinander umgehen. Daniel hatte den Generator abgestellt,
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