Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
Esshütte krähte ein Hahn, halbherzig, als sei er noch nicht ganz wach. Emma blickte auf. Moyo und die Jungen lagen immer noch im Schatten. George, Daniel und Ndisi standen am alten Landrover, hatten die Haube geöffnet und reparierten irgendetwas. Sie wirkten völlig entspannt. Angel saß nahe bei Emma und strickte. Das Ende des Schals berührte bereits ihre Knie.
Emma schaute sie an. Sie hatte eine Haarsträhne, die ihr übers Gesicht gefallen war, im Mund. Das hatte Emma als Kind auch immer gemacht, und sie wusste noch genau, wie es sich anfühlte, die Zunge durch die Fransen zu ziehen.
Angel hob den Kopf, als ob sie Emmas Blick spüren würde. »Danke, dass du meine Kleider gewaschen hast, Emma. Das war sehr nett von dir.«
»Das habe ich gerne gemacht.« Angels gute Manieren überraschten Emma; das Bild, das sie von Laura hatte, war nicht das einer Mutter, die viel Wert auf gesellschaftliche Umgangsformen legte. Dann jedoch rief sie sich ins Gedächtnis, dass Angel in Afrika aufgewachsen war, wo Höflichkeit zum alltäglichen Leben gehörte.
»Ich hätte sie auch selber waschen können«, fügte Angel hinzu. »Ich kann kochen und sauber machen. Bei den Barmherzigen Schwestern habe ich sogar geholfen, Jäckchen für die kranken Babys zu nähen.«
»Die Barmherzigen Schwestern«, wiederholte Emma. »Ist das ein Krankenhaus?«
Angel nickte. »Es ist im Feigenbaum-Dorf. Dort bin ich geboren.«
»Und du hast da gelebt?«, fragte Emma vorsichtig.
»Nein, wir haben die Nonnen nur besucht, wenn wir mehr Medikamente gebraucht haben. Wir haben nirgendwo fest gelebt. Wir sind herumgereist und haben Leute besucht, die an Krankheiten wie Krebs oder AIDS gestorben sind. Sie haben in Dörfern gelebt, wo es keine Kliniken oder Krankenhäuser gab. Sie hatten nur uns.«
»Du hast also deiner Mutter geholfen«, sagte Emma.
Angel nickte. »Ich habe Tabletten ausgeteilt und den Kranken Kalebassen an den Mund gehalten, damit sie trinken konnten. Ich habe ihnen das Gesicht gewaschen und ihnen vorgesungen. Wir haben immer darauf geachtet, dass sie nie allein blieben. Das war unsere Aufgabe.«
Emma öffnete verwundert den Mund. Angel hatte mit ihrer Mutter nicht nur in diesem entlegenen Teil von Afrika gelebt, sie war sozusagen auch ihre Kollegin gewesen. Emma stellte sich vor, wie Laura und ihre kleine Tochter Seite an Seite arbeiteten, Menschen, die im Sterben lagen, pflegten und ihnen nicht von der Seite wichen, wenn sie mit dem Tod rangen. Emmas Forschungen hatten sie ab und zu in Sterbehospize geführt, und trotz aller Möglichkeiten der modernen Medizin hatte sie dort erschreckende Dinge erlebt. Sie konnte sich kaum vorstellen, was in einer afrikanischen Hütte vor sich ging.
»Hattest du keine Angst?« Emma studierte Angels Gesicht, als müsse dort eine Narbe von all dem Leid zurückgeblieben sein.
»Manchmal. Aber dann musste ich eben tapfer sein. Laura brauchte mich ja. Es gab so viel zu tun. Manchmal machten wir auch unsere eigene Medizin. Von Morphium bekommt man Verstopfung, und dafür hatten wir keine Tabletten. Aber man kann Papaya-Samen trocknen und sie zermahlen. Das funktioniert gut. Man kann auch Medizin aus dem Frangipani-Baum machen. Und man bekommt spezielle Pflanzen von den laiboni. «
Emma lauschte ungläubig. Angel redete in so sachlichem Ton und benutzte die medizinischen Begriffe so geläufig, als ob es überhaupt nicht ungewöhnlich gewesen war, dass sie mit ihrer Mutter zusammengearbeitet hatte. Wieder stieg in Emma das Gefühl auf, Laura zurechtweisen zu wollen, weil sie ihre Arbeit wichtiger genommen hatte als ihre Rolle als Mutter. Aber als sie darüber nachdachte, wie viel Leid Laura gelindert hatte, ihr Kind ständig an ihrer Seite, schienen ihr auf einmal die Prioritäten weniger klar. Sie dachte an Daniels Gesichtsausdruck, als er ihr erzählt hatte, wie sehr Lela gelitten hatte. Sie stellte sich das winzige Baby vor, grau und schlaff. Sie dachte daran, wie ihre eigene Mutter versucht hatte, solche Tragödien zu verhindern. In dieser Hinsicht hatte sie viel mit Laura gemein. Hätte Susan sich in erster Linie um Emmas Wohlergehen kümmern sollen? Hätte Laura dieselbe Entscheidung für Angel treffen sollen? Was war das Glück eines Kindes wert? Emma schüttelte den Kopf. Diese Frage war schwer zu beantworten. Und wie sollte man Glück definieren? Angels Stimme hatte stolz geklungen, als sie »wir« und »unser Job« gesagt hatte. Plötzlich stieg Neid in ihr auf. Wie außergewöhnlich es
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