Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
für Mutter und Tochter gewesen sein musste, so tiefgreifende Erfahrungen miteinander zu teilen – Freude und Triumphe ebenso wie Tragödien. Und vor allem waren sie immer zusammen gewesen. Emma empfand schmerzliche Sehnsucht. In dieser Hinsicht unterschied sich Angels Leben von ihrem – diese Nähe, dieses intime Zusammensein mit ihrer Mutter hatte Emma nie gekannt.
»Hast du die Satteltaschen ausgepackt?« Angels Worte rissen sie aus ihren Gedanken. »Und die Kleider gefunden?« Sie zeigte auf ihre Sachen, die schon wieder schmutzig waren.
»Matata hat die Taschen ausgepackt«, sagte Emma. »Er hat den Inhalt im ganzen Hof verteilt. Daniel hat ihn ziemlich ausgeschimpft.«
Angel kicherte. »Er war schon immer frech.« Ein angespannter Ausdruck trat in ihr Gesicht. »Wann kann ich sie sehen?«
»Bald«, antwortete Emma.
»Du lässt doch nicht zu, dass ich abgeholt werde, ohne sie gesehen zu haben, oder?«
Voller Mitgefühl, weil Angel ihre Situation so tapfer ertrug, versicherte Emma ihr: »Du wirst sie auf jeden Fall sehen.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie schon wieder ein Versprechen gegeben hatte, ohne zu wissen, ob sie es halten konnte.
»In einer der Satteltaschen waren ein paar wirklich kostbare Sachen«, sagte Angel besorgt. »Hast du sie gesehen? Eine Perlenkette und eine Fliegenklatsche aus einem Löwenschwanz.«
»Mach dir keine Sorgen, wir haben die Sachen sicher aufbewahrt«, sagte Emma.
Angel atmete erleichtert auf. »Sie haben Walaita gehört. Als sie starb, haben wir ihr versprochen, sie zum manyata ihres Bruders am Fuß des Ol Doinyo Lengai zu bringen. Dorthin waren Laura und ich unterwegs – als sie gebissen wurde. Wir haben die Schlange nicht einmal gesehen …« Ihre Stimme zitterte, und sie presste die Lippen zusammen.
Emma legte Angel die Hand auf die Schulter. Sie konnte die Knochen spüren. Das Mädchen war so klein und zerbrechlich. Sie war sich unschlüssig, ob sie Angel ermuntern sollte, weiterzureden, oder ob sie sie besser ablenken sollte, aber dann traf Angel ihre eigene Entscheidung.
»Du bist gleich fertig«, sagte sie zu Emma. »Was können wir als Nächstes tun?«
Wieder hatte Emma das Gefühl, dazuzugehören, weil das Kind sie in die Frage einbezogen hatte. »Wir fragen Ndisi«, antwortete sie und ließ ihre Hand von Angels Schulter gleiten.
»Er freut sich, dass wir hier sind«, sagte Angel. »Er braucht Hilfe für die Arbeit in diesem Camp.«
Emma schaute sie an. Sie hatte den Eindruck, dass Angel eine Antwort von ihr erwartete, aber sie war sich nicht sicher, wie sie ausfallen sollte.
Angel stand auf. »Komm.« Sie hielt ihr die Hand hin, als ob Emma ein Kind sei, dem man helfen müsse.
Emma erhob sich. Als sie Angels Hand ergriff, stiegen plötzlich Erinnerungen in ihr auf. Ihre Hand war die kleinere, und sie wurde von der größeren, stärkeren Hand in festem Griff gehalten. Sie erinnerte sich ganz genau, dass sie sich daran geklammert hatte und sie nie wieder loslassen wollte. Wie eine Szene aus einem Film sah sie die Bilder vor sich im Kopf. Susan löste ihre Finger von ihrer Hand, kniete sich vor sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Mach kein Theater, Liebling. Mommy muss arbeiten gehen. Aber ich komme bald wieder zurück.«
»Und wenn du nicht zurückkommst?«, hörte Emma sich fragen. Sie erinnerte sich noch gut an die vage Angst, die sie vor diesem unbekannten Ort in »Übersee«, zu dem ihre Mutter fuhr, hatte. In ihrer Vorstellung war er dunkel und verborgen, und wenn Susan sich dort verirrte, würde man sie nie mehr finden.
Susan lächelte. »Ich komme immer wieder zurück – das weißt du doch.«
Emma schüttelte die Erinnerung ab. Wieder hatte sie das Gefühl, dass sie hier in Tansania keine Kontrolle über ihre Emotionen hatte. Ständig stiegen Erinnerungen und Gedanken in ihr auf, die immer neue Fragen aufwarfen. Es war, als läge alles unter einem elektronischen Mikroskop, ohne dass Emma einen Einfluss darauf hatte, unter welchem Winkel oder wie intensiv es betrachtet wurde. Sie sah ihre Mutter auf einmal ganz anders, als sie sie in Erinnerung hatte. An Stelle der alten Susan, die sich hingebungsvoll ihrer Arbeit gewidmet hatte, sah sie auf einmal eine Frau, die ihr einziges Kind aus ihrem Leben ausgeschlossen hatte. Und mit ihrem Beispiel hatte Susan alle wichtigen Beziehungen im Leben ihrer Tochter geprägt, das verstand Emma jetzt. Emma hatte sich dafür entschieden, mit Leuten zusammen zu sein,
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