Das Herz kennt die Wahrheit
der Dunkelheit horchte sie auf ungewöhnliche Geräusche. Doch alles, was sie vernahm, war das Knarren des Holzes, der heulende Wind und das gleichmäßige Klatschen des Wassers gegen den Rumpf.
Dann hörte sie es wieder. Es klang wie das Blöken eines Lamms. Ruckartig sprang sie auf, zog sich notdürftig an und schlüpfte noch in den Seemantel, als sie bereits in die Richtung eilte, aus der das Geräusch gekommen war.
Sie merkte, dass die Laute nicht aus dem Mannschaftsquartier, sondern vom Deck her kamen.
In einer Ecke am Bugspriet kauerte Whit; er hatte sich in eine Decke gehüllt, um den scharfen Wind abzuhalten. Das unüberhörbare, hohe Winseln drang zweifelsohne unter seinen Armen hervor.
Der Junge sah ganz elend aus, als Darcy auf ihn zukam.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll, Captain. Furchtlos will nicht schlafen. Und er hört nicht auf zu weinen. Ich sitze hier schon seit einer Stunde und versuche ihn zu beruhigen. War es falsch von mir, den Kleinen seiner Mama und seiner Familie wegzunehmen?"
"Nein, Junge. Das war nicht falsch." Sie kniete sich neben ihn hin und berührte den Welpen am Kopf. "Er ist alt genug, um entwöhnt zu werden. Für ihn ist nur alles neu. Er braucht Trost und Zuwendung."
"Ich bin schon mit ihm auf und ab gegangen und habe leise auf ihn eingeredet, aber es hilft alles nichts."
Beide schauten auf, als ein Schatten auf sie fiel.
"Gryf." Der Junge sah niedergeschlagen aus. "Hat Furchtlos dich auch geweckt?"
"Schon gut, Junge." Der Mann ging vor ihm in die Hocke. "Er weint ein bisschen, nicht wahr?"
Whit nickte. "Mehr als nur ein bisschen. Ich hatte Angst, dass die ganze Mannschaft hinter mir herjagen würde, wenn ich unter Deck geblieben wäre."
Darcy sah Gryf an. "Whit hat Furchtlos schon hin und her getragen und beruhigend auf ihn eingeredet, aber der Kleine weint immer noch. Hast du eine Idee, was mit ihm sein könnte?"
"Vielleicht hat er Hunger. Ich schau' mal nach, was Fielding noch in der Kombüse hat."
Kurze Zeit später kehrte er mit einer Hand voll Fleischstückchen und einer kleinen Schale mit Wasser zurück. Der Welpe musste eine Weile überredet werden, doch schließlich fraß er sämtliche Bissen auf und leerte die Schale.
"Und jetzt", meinte Darcy, "musst du mit Furchtlos aus der Kälte heraus."
"Ich kann aber nicht in meine Hängematte zurück, Captain. Wenn er wieder zu weinen anfängt, dann wird er bestimmt Newton aufwecken. Und am Morgen wird er mich zwingen, Furchtlos wieder an Land zu bringen."
"Ja, du hast Recht. Ich weiß, wie Newt sich nach einer schlechten Nacht aufführt." Sie dachte einen Augenblick nach. "Du kannst in meiner Kajüte schlafen. Wenn die Tür geschlossen bleibt, hört es niemand von der Mannschaft, falls Furchtlos wieder anfängt zu heulen."
Der Junge ließ den Kopf hängen. "Wenn die Männer herausbekommen, dass ich die Nacht bei Euch verbracht habe, werden sie mich Baby nennen."
Darcy holte tief Luft und rechnete nach, wie viele Stunden es noch bis zur Dämmerung waren. "Du musst dir keine Sorgen machen. Du und Furchtlos, ihr könnt meine Kajüte für euch allein haben. Ich wollte sowieso aufstehen. Es gibt … noch einiges, das ich zu erledigen habe."
Die Augen des Jungen weiteten sich. "Wirklich?"
"Ja. Komm mit. Ich zeige dir, wo du dich hinlegen kannst."
Sie ging über das Deck zu dem Niedergang, der nach unten zu ihrer Kajüte führte. Dort schlug sie die Decke in der Koje zurück und half dem Jungen hineinzuklettern. Sorgfältig deckte sie ihn zu und sah, wie der Welpe sich an ihn kuschelte und die Augen schloss.
"Gute Nacht, Whit."
"Gute Nacht, Captain. Danke."
Sie schloss die Kajütentür und stieg wieder an Deck. Dann ging sie zur Bordwand und blickte in den Nachthimmel.
Als sie spürte, wie sich eine warme Decke um ihre Schultern legte, drehte sie sich um und sah Gryf vor sich stehen.
"Ich dachte, du hättest dich wieder hingelegt."
"Und ich dachte, du müsstet noch einiges erledigen, Captain."
"Muss ich auch." Sie seufzte. "Aber erst in ein paar Stunden."
"So ist es. Die Arbeit erledigt man besser bei Tage. Doch es gibt immer noch ein paar gute Möglichkeiten, die Dunkelheit zu nutzen." Seine Stimme senkte sich verführerisch. "Zu den schönsten Dingen im Leben gehört, eine angenehme Nacht in Gesellschaft einer schönen Frau zu verbringen."
"Ah." Sie lachte. "Wie ich sehe, hast du dich noch nicht richtig von deinen Verletzungen erholt. Dein Geist ist immer noch verwirrt. Denn sieh doch, die Nacht ist
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