Das Herz meines Feindes
Hütte des Schäfers verbracht hatte – und an die wunderbare Freude, die sie in seinen Armen gefunden hatte. Wenn sie das vom Ehebett erwarten durfte, hatte sie keinen Grund zur Klage, quälte sie eine leise Stimme in ihrem Inneren.
Aber es gab keine Liebe – noch nicht einmal Zuneigung überlegte sie und versuchte, jegliche Erinnerung an diese Nacht zu begraben. Noch nicht einmal so etwas wie gegenseitiger Respekt herrschte zwischen ihnen, denn ihn interes sierte gewiss nur das Gut, das mit ihrer Hand einherging, und sie würde einen Colchester niemals achten können. Die se Familie hatte den Menschen von Orrick nur Tod, Elend und Leid gebracht. Sich ihm durch die Ehe auszuliefern, war nackter Wahnsinn!
Und doch kam sie mit jedem Schritt, den ihr Vater seine beiden Töchter in die große Halle geleitete, diesem Wahnsinn immer näher.
Am Fuße der Treppe stolperte sie. Wenn ihr Vater sie nicht gehalten hätte, wäre sie bestimmt gefallen. Doch seine Hand wurde schnell durch eine andere, sogar noch stärkere abgelöst, und als Lillianes erschrockener Blick sich hob, sah sie in das harte Schiefe r grau der spöttischen Augen Sir Cor betts.
Er sprach nicht mit ihr, während er sie durch die überfüllte Halle in die kleine Kapelle führte. Aber sein Schweigen steigerte ihre Verzweiflung nur noch. Welcher Worte bedurf te es denn auch noch? All das würde in kurzer Zeit ihm gehören – Orrick Castle, die gesamte nördliche Hälfte von Windermere Fold und die älteste Tochter seines erbittertsten Feindes. In diesem Augenblick bedauerte Lilliane ihre vo r schnelle Entscheidung, ihr Haar vollständig zu bedecken, aufrichtig. Es war eine Geste des Wide r standes, aber sie war nutzlos, das wusste sie jetzt. Doch sie war immerhin das einzige Symbol ihres Widerstandes, das ihr geblieben war.
Sie atmete tief ein, hob ihr Kinn und blickte en t schlossen das Mittelschiff der Kapelle hinab. Neben sich spürte sie Sir Corbetts durchdringende Wärme. Ihr Arm streifte ihn, als sie den Hoc h zeitszug anführten, und sie hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Was geschehen würde, würde geschehen, sagte sie sich. Sie konnte es jetzt nicht mehr ändern. Sie wollte nicht an das denken, was diesem Augenblick folgen würde. Sie würde sich ganz sicher nicht vorste l len, wie die bevor stehende Nacht würde, ebenso wenig die anderen Nächte und Tage – die ihr wie ein endloser unbekannter Strom vor kamen.
Sie blieb standhaft in ihrem Entschluss, doch als sie vor dem Altar niederkniete und den Kopf senkte, betete sie nicht um Standhaftigkeit, sondern um eine Gnadenfrist.
Die Messe, die sie schon so häufig als endlos empfunden hatte, erschien ihr heute unglaublich kurz. Vater Denys er lebte heute eindeutig eine seiner Sternstunden, denn Lilliane war sicher, dass die Kapelle noch nie mit so vielen demütig gesenkten Häuptern gefüllt gewesen war. Als er die beiden Paare bat, zum Altar zu kommen, begann sie hölzern, darauf zuzuschreiten, aber Sir Corbetts fester Griff ließ sie innehal ten.
»Vermählt zuerst Sir Santon mit Lady Tullia«, sagte er zu dem überraschten Priester. Ein leises Wispern erhob sich in der kleinen steinernen Kapelle. Aber ebenso schnell erstarb es wieder, als der Priester nickte und sich dann dem anderen Paar zuwandte.
Lilliane bekam von der Zeremonie, die ihre jüngste Schwester mit Sir Santon verband, beinahe nichts mit. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Sir Corbetts anmaßendem Gebaren. Hatte er denn vor keiner Autorität außer der eige nen Respekt? Musste sogar die Kirche sich seinen Launen fü gen? Sie war aufgebracht, voller gerechten Zorns, bis sie sah, wie Santon Tullia seinen Ring überstreifte. Als er sein Gelüb de mit einem Kuss besiegelte, erhob sich ein allgemeines Ge murmel der Zustimmung, und Lilliane vergaß ihr eigenes Leid. Ihre jüngste Schwester war jetzt eine verheiratete Frau! Nur die schönste Zukunft erwartete sie. Eine Träne lief Lil liane über die Wange, als sie Tullias ekstatisches Gesicht sah und ihr zulächelte. Wie glücklich das ihre Mutter gemacht hätte, dachte Lilliane.
Aber dann wandte sich der Priester ihr und Sir Corbett zu, und alle Gedanken an Glück waren dahin. Der Priester bereitete sich darauf vor, mit den heiligen Ehegebeten zu be ginnen, als Sir Corbett erneut das Wort ergriff.
»Ich möchte, dass die Hochzeit dort stattfindet, wo jeder mann daran teilnehmen kann.«
Der beleibte Priester in seiner schimmernden Robe blickte den großen Ritter verwirrt an.
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