Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
Kinder, die Süßigkeiten stibitzten. Vor uns stand ein Erschaffer – derjenige von der Tür. Die Hände hielt er gütig an der Hüfte verschränkt.
»Es … es ist …« Ich keuchte und versuchte, die stumpfsinnige Ehrfurcht zu heucheln, die der Mann erwartete. »Es ist verblüffend.«
»Oh, ich verstehe. Das Muster ist ein wahrhaft überwältigender Anblick. Besucht ihr den Algorithmus oft?«
»Regelmäßig«, antwortete Emily. »Ich meine, bei jeder Gelegenheit. In der Stadt. Sag, Erschaffer, wir haben gehört, dass es tiefer gelegene Kammern gibt. Wo das Muster … unverfälschter ist.«
»Reinere Wunder«, fügte ich rasch hinzu, indem ich die Erinnerungen meiner Kindheit an die korrekte Formulierung anzapfte. »Die reine Form des Musters.«
Der Erschaffer musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen, schüttelte jedoch den Kopf. »Die inneren Kammern sind den Ruhmreichen vorbehalten, meine Kinder. Den Oberhäuptern der Kirche und den Gründern der Stadt. Ich fürchte, sofern ihr nicht den Weg in den Rat gefunden habt, kann ich euch nicht hinbringen.«
»Ich denke doch«, widersprach Emily. Sie hatte die Pistole in der Hand. »Wir nehmen unsere Erleuchtung sehr ernst.«
Ich stieß einen leisen Fluch aus. Erschaffer redeten gern über ihre kleinen Wunder. Ich war überzeugt davon, dass wir uns den Weg hinein auch mit Worten hätten bahnen können. Emilys Blick wirkte wild.
»Aber Kind«, sagte der Erschaffer, hob die Hände und wich zurück. »Gewalt ist nicht nötig.«
»Jetzt pass mal auf, heiliger Mann: Ich suche dieses von den Göttern verdammte Muster. Zeig es uns.«
Er erbleichte und sah mich an. Ich nickte. Wir setzten unseren Willen durch.
Die Kirche Gottes, die Kirche des Algorithmus. Die Kirche der Kolben und Getriebe, der verwinkelten Antriebsscheiben, der klickenden Anker, der in heiligem Takt rotierenden Räderwerke – ein Tempel aus Mechanik und Öl. Die Kammer meiner Jugend.
Wir standen im zentralen Heiligtum. Der Raum glich einer Geode aus Mechanik, bestand aus Wänden sich drehender Mechanismen, aus göttlichen, beweglichen Bildnissen, aus Generationen getakteter Getriebe, die man aus dem Fluss geborgen und zusammengebaut hatte. Die Erschaffer suchten nach dem heiligen Algorithmus, nach dem verborgenen Muster, nach dem göttlichen Ineinandergreifen von Zahnrädern, das sich nur den Reinsten, nur den Demütigsten offenbaren würde. Generationen von Erschaffern hatten an diesem Maschinengebäude gearbeitet, Achsen eingepasst und Schrauben festgezogen. Ständig bei der Arbeit. Ihre Hingabe wurde in öligen Händen und schwieligen Fingern gemessen.
Der Raum war laut und beengt. Einst war er groß gewesen, ein riesiger, dem Studium der unter der Stadt verborgenen Mysterien gewidmeter Saal. Im Laufe der Zeit hatte sich das geändert. An den Wänden waren Schichten von Räderwerkmechanismen entstanden, immer dichter und dichter beisammen, die die Luft komprimierten. Mittlerweile hatten sie beinahe schon die Decke erreicht. Der Boden zitterte unter den stoßenden Kolben und mahlenden Zahnrädern.
Ich beobachtete Emily. Ich konnte mich daran erinnern, dass ich selbst überwältigt gewesen war, als ich als Kind zum ersten Mal hierherkam. Mein Vater hatte mich auf seine Weise darauf vorbereitet.
»Ihr habt kein Recht, hier zu sein!«, brüllte der Erschaffer. Neben den Maschinen nahm sich seine Stimme dennoch leise aus. »Dies ist eine heilige Stätte.«
»So ist es«, bestätigte ich. »Wir sind nur hier, um unsere Hingabe zu zeigen.«
»Dann nehmt die Waffe weg«, erwiderte er und nickte in Emilys Richtung. »Und lasst mich meine Brüder rufen.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir brauchen deine Brüder nicht. Heute nicht. Aber, meine Liebe«, ich legte Emily eine Hand auf die Schulter, »vielleicht ist die Pistole wirklich unnötig.«
»Was?«, fragte sie, und starrte mit verrenktem Hals zur Decke empor. Ich beugte mich so dicht zu ihr, dass meine Wange die ihre streifte.
»Die Pistole.«
Mürrisch steckte sie die Waffe weg, bevor sie wieder die Räderwerkmechanismen anstarrte.
»Sie erkennt das Wunder, mein Sohn.« Der Erschaffer sah blass aus, trotzdem schaute er streng drein. »Du nicht. Wo ist deine Ehrfurcht in der Gegenwart Gottes?«
»Ich konnte sie nicht in mir bändigen, Erschaffer. Sie ist entfleucht. Und nun zur Säule der innigen Absichten«, sagte ich und wiederholte, was Morgan mir erzählt hatte. »In der Nähe des Wandteppichs des verborgenen Strebens. Ich
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