Das Hexenbuch von Salem
funktionierte. Wann immer ihr eine Erklärung plausibel schien, zerfiel sie kurze Zeit danach wieder wie nasses Papier in ihren Händen. Was Sam betraf, war es einfach eine Karteikarte, und damit war die Sache sozusagen
erledigt. Auch Connie kam alles immer unwahrscheinlicher vor, je mehr Zeit seit der wundersamen Wiederbelebung der Grünlilie verstrich. Dennoch war es geschehen.
Connie schaute auf ihre Armbanduhr. Es passte gar nicht zu Chilton, sie warten zu lassen. Im Gegensatz zu Janine Silva, die ewig außer Atem war und hinter ihrem Zeitplan herhinkte, hielt Chilton seinen Tagesablauf akribisch ein. Seine Sprechstunden fanden selbst in der größten Sommerhitze, wenn die meisten Akademiker vom Campus flohen, eisern und pünktlich statt. Connie ließ einen ihrer Flipflops von ihrem ausgestreckten Fuß baumeln und vermied es tunlichst, auf das beunruhigende Landschaftsgemälde mit seinen gleichzeitig am Himmel stehenden Gestirnen zu schauen. Ihre Schulterblätter bewegten sich in Richtung der mittleren Rückenleiste der Bank, einer Reliefschnitzerei des Universitätssiegels mit einer Abbildung der Veritas - der Wahrheit also -, in Schweifwerk gearbeitet. Das erhabene Holz drückte gegen ihre Muskeln, und sie stützte die Ellbogen auf die Knie, um dem Druck auszuweichen. Wie lange würde sie wohl noch warten müssen? Es war nicht seine Art, aber vielleicht hatte Chilton ihre Verabredung ja vergessen.
Während sie auf der Suche nach etwas zu lesen in ihrer Schultertasche wühlte, ging die Tür zu Chiltons Büro mit einem leisen Klicken auf, und sie sah zwei gewienerte Halbschuhe, die nebeneinander in der Ecke ihres Gesichtsfeldes auftauchten. Sie blickte auf und schaute in das verkniffene Gesicht von Manning Chilton, bleich über seiner marinefarbenen Fliege.
»Connie, mein Mädchen«, sagte er, und seine Stimme klang angestrengt. »Wir haben eine Verabredung, richtig? Warum kommen Sie denn nicht rein?« Ohne auch nur die Chance zu einer Antwort zu haben, packte Connie ihre Schultertasche und folgte ihm in sein Büro. Der Anblick von
Chiltons besorgter Miene verdrängte die sonderbaren Ereignisse des vergangenen Abends in einen fernen Winkel ihres Denkens, denn sie würde ihre ganze Konzentration brauchen, um aus der Situation mit ihrem Doktorvater schlau zu werden.
Sein Schreibtisch, normalerweise eine weite, aufgeräumte Fläche nackter, schimmernder Eiche, war mit ungeordneten Papierstapeln bedeckt, die sich an den äußersten Kanten zu wahren Schneewehen aufgetürmt hatten. Ein halbes Dutzend Bücher lagerten neben seinem Ellbogen, an mehreren Stellen mit gelben Merkzetteln gespickt. Vor ihm thronte ein dicker Schreibblock, mit Notizen vollgekritzelt. Ein Aschenbecher müffelte in Armeslänge vor sich hin, das Mundstück der Pfeife hatte Kauspuren. Chilton nahm Platz, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Finger vor dem Mund zu einem Dach zusammen. Sogar die Fata Morgana eines Kaffeetassenringes glaubte Connie auf einem der Dokumente zu sehen, die unter der Schreibtischlampe hervorlugten. Chilton schaukelte ein wenig in seinem Stuhl hin und her, ohne sie wirklich anzuschauen, und schien sich nur halb dessen bewusst zu sein, dass sie ihm gegenübersaß.
»Professor Chilton?«, fragte sie und beugte sich vor, um seinen Blick einzufangen.
Er schaukelte noch einen Moment weiter, blinzelte dann und richtete die Augen auf Connie. Ihr Doktorvater kam ihr noch älter vor, als sie ihn in Erinnerung hatte, seine Haare wirkten eine Spur weißer und seine Haut schlaffer. Die Probleme mit seinen Forschungen schienen ihm mehr zu schaffen zu machen, als Janine es angedeutet hatte. Zum ersten Mal in all ihren Jahren als Studentin ertappte sich Connie bei einer Art Beschützerinstinkt Chilton gegenüber, wenn sie sich die Häme vorstellte, die ihm bei der Konferenz entgegengeschlagen war. Vielleicht war seine Arbeit wirklich zu
abgehoben, zu philosophisch für den durchschnittlichen Historiker. Auf einmal hatte sie das Gefühl, auf seiner Seite zu stehen, und sie war stolz darauf, mit einem Mann zu arbeiten, in dessen Macht es stand, das Verständnis von Geschichte zu verändern.
»Sagen Sie mir, Connie, wo stehen wir denn mit Ihrem Buch der Schatten aus der Kolonialzeit?«, bellte er und schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie spürte, wie die Zuneigung, die sie kurzzeitig erfasst hatte, dahinschwand und an ihre Stelle die bibbernde Bangigkeit der Studentin trat, die ihr Seminar geschwänzt hat.
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