Das Hexenbuch von Salem
der Stadt hinweg konnte sie gerade noch die Reihe der angeklagten Frauen sehen, die allesamt Ketten an den Händen trugen und mit gesenktem Kopf vor der Empore standen, wo die Richter saßen, während hinter einer Schranke seitlich daneben die Geschworenen ihren Platz hatten. Deliverance war die zweite von links; Mercy erkannte das Kleid, das ihre Mutter an dem Tag getragen hatte, als Jonas Oliver sie mitgenommen hatte, obwohl es mittlerweile bräunlich verfärbt, mit Schmutz bespritzt und an verschiedenen Stellen zerrissen war. Mercy ging um die hinteren Zuschauerreihen herum,
ohne den Rücken ihrer Mutter auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Während sie über die Beine anderer klettern musste, die dicht gedrängt am Mittelgang saßen, sah sie, wie Deliverance kurz über ihre Schulter schaute und Mercys Blick begegnete. In ihrem müden Gesicht stand eine Mischung aus verhohlener Erleichterung und Bestürzung.
»Pass doch auf, Mädchen!«, grollte ein Mann mit grauem Haar, dessen Kleider nach Fisch stanken. Er rieb sich das Schienbein und schaute sie vorwurfsvoll an. Sie murmelte eine Entschuldigung und setzte ihren langsamen Weg zwischen den vollbesetzten Bänken hindurch fort, denn sie wollte die gegenüberliegende Seite des Saales erreichen, um vielleicht das Gesicht ihrer Mutter sehen zu können. Dabei schnappte sie allerhand Fetzen Klatsch auf, die keiner bestimmten Person galten, sondern sich eher wie ein Gemisch aus Meinungen aus der Zuschauermenge erhoben.
»… hätte ich nie gedacht, dass Rebecca Nurse das macht …«
»… und dann ist sie des Nachts zu ihr gekommen, wie sie leibt und lebt, und sie flog auf einem Besen, und eine Kerze brannte im Reisig …«
»… und acht Kinder sind ihr schon gestorben. Kamen auf die Welt und welkten in ihren Armen dahin …«
»… weil sie Teufel und Kobolde gesäugt hätten, heißt es …«
»… und dann hat sie gesagt, das werdet Ihr mir büßen, und so war es auch …«
Mercys Augen huschten von einem Gesicht in der Menge zum anderen, und ihnen allen – runzlige, zahnlose Männer, blutjunge Ehefrauen, Edelleute mit Spitzenkragen, rotwangige Kinder – schien es die Laune ordentlich vergällt zu haben, so wütend klappten sie Münder auf und zu, wie Fische, die im Wasser nach einem Fleischköder schnappen.
Endlich hatte Mercy die andere Seite des Bethauses erreicht, presste die Schulter gegen die Wand und ballte unter ihrer Schürze die Fäuste. Direkt hinter der Reihe mit den Angeklagten, in der vordersten Zuschauerbank und damit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der gaffenden Menge, saß eine Gruppe Mädchen in etwa ihrem Alter, einige etwas älter, andere sogar jünger, die sich wanden, die Hände rangen und dabei ohne Unterlass kreischten und heulten. Mercy zog die Stirn in Falten. Eine oder zwei von ihnen kannte sie. Diese Ann Putnam zum Beispiel war ihr wohl bekannt, und Gott möge ihr vergeben, wie sehr verachtete sie dieses Mädchen! Stolz und flatterhaft war sie, nie diejenige, die als Erste einen neuen Gedanken fasste, doch die Meinungen der anderen immer mit lautester Stimme zum Besten gab. Mercys Nasenflügel blähten sich. Ann war ein Stück älter als die anderen Mädchen; sollte sie nicht also ein wenig mehr Verstand haben?
Von den angeklagten Frauen kannte Mercy außer ihrer Mutter nur zwei: Sarah Good, die sowohl in der Stadt Salem als auch im Dorf ein vertrauter Anblick war, wenn sie, stets schimpfend und wetternd, mit ihrem kleinen Mädchen unterwegs war. Selbst jetzt stand sie mit wild rollenden Augen da, ihr Mund war schlaff, eine Hand zuckte. Vor Sarah Good hatte sich Mercy immer ein wenig gefürchtet, und von ihrem ungezügelten Töchterchen hieß es, es schreie und beiße. Sie fragte sich, wo die kleine Dorcas wohl war. Auch ein Blick in die Zuschauermenge ergab nichts. Doch dann, auf der anderen Seite von ihrer Mutter aus gesehen, erkannte Mercy mit einiger Überraschung die gebückte, weißhaarige Gestalt von Rebecca Nurse – und die Frau war ein volles Mitglied der Kirche! Eine gottesfürchtige Person, allseits bekannt, und keineswegs dafür, eine Hexe zu sein.
Wenn man sie anklagt, dann – ja, dann haben die Richter wohl
wirklich vor, bis zum bitteren Ende mit diesem Wahnsinn fortzufahren, hörte Mercy die Stimme ihres Vaters. Wie sehr wünschte sie, ihr Vater wäre hier! Sein Wort hatte im Dorf immer Gewicht gehabt. Er hätte gewusst, was zu tun war. Und ganz bestimmt hätte er nicht im Haus seine Zeit
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