Das Hexenkraut
verloren. Er sprang mitten durch ein Gebüsch. Die Zweige zerkratzten sein Gesicht. Er verlor das Gleichgewicht, fing sich aber im letzten Moment und raste weiter. Bei jedem Atemzug fuhr ein stechender Schmerz in seine Brust.
Plötzlich spürte er etwas an seinem Fuß. Jakob biss die Zähne aufeinander und beschleunigte noch einmal.
Der Bär brüllte vor Wut, als seine Tatze Jakobs Fuß abermals nur knapp verfehlte. Er hatte Jakobs Füßling gestreift und ein Stück Leder von der Ferse abgerissen.
Jakob wusste, dass es jeden Augenblick um ihn geschehen war. Er konnte nicht schneller rennen. Er konnte sich nirgendwo verstecken. In allerletzter Sekunde tauchte ein Felsbrocken direkt vor ihm auf. Jakob machte einen gewaltigen Satz und sprang darüber. Doch statt dahinter sicher auf dem Boden aufzukommen, stürzte er auf einen Erdhügel, der direkt hinter dem Felsen lag. Er knickte um, ruderte mit den Armen, taumelte, landete auf den Knien und fiel schließlich mit ausgestreckten Armen auf die Kuppe des Erdhügels. Er hatte so viel Schwung, dass er sich mehrmals überschlug, wie ein Kiefernzapfen den Erdhügel hinabrollte, über Gesteine, Gräser, Moos und an Bäumen und Büschen vorbei, und erst zwischen einem Baum und einem Gesteinsbrocken auf dem Bauch liegen blieb.
Sein Gesicht steckte in einer feuchten Bodenmulde, seine Knie waren aufgeschürft, seine Handflächen brannten. Doch all das machte Jakob nichts aus. Er lag steif wie ein Baumstamm auf dem Waldboden und lauschte. Er hörte, wie der Bär näherkam. Ganz gemächlich, als wäre er sich seiner Beute sicher.
Jakobs erster Gedanke war, wegzulaufen. Aber dazu hatte er keine Kraft mehr. Der Bär hätte ihn nach drei Schritten eingeholt. Einen Moment dachte Jakob daran, auf den Baum zu klettern. Doch Bären sind sehr gute Kletterer. Jakob wusste auch, dass es sinnlos wäre, den Bären anzugreifen. Womit auch? Mit den bloßen Händen? Der Bär war so stark wie fünf Soldaten zusammen. Was sollte Jakob tun?
Plötzlich verstummten die schweren Schritte, das Knacken der Äste und das Rollen der Steine. Jakob versteifte sich noch mehr. Der Bär musste ganz in seiner Nähe sein. Da! Er spürte etwas Warmes an seinem Bein. Dort, wo ein Ast seine Hose zerrissen hatte. Es war der Atem des Bären. Jakob schloss die Augen, presste die Lippen aufeinander und unterdrückte einen Aufschrei. Der Bär schnupperte an seinem Bein. Die feuchte Nase des Bären kitzelte auf Jakobs nackter Haut. Jeden Moment würde er seine scharfen Hauer in Jakobs Bein bohren.
Der Bär stupste ihn mit einer Tatze in die Seite, als wollte er mit ihm spielen. Jakob rührte sich nicht. Auf einmal spürte er die Schnauze des Bären imNacken. Er wusste: Mit einem Biss konnte der Bär ihn töten. Jakob stemmte die Stirn in die kühle Erdmulde und betete. Am liebsten wäre er ganz im Erdboden versunken. Oder hätte sich in einen Ast verwandelt. Oder wäre davongeflogen, wie eine Hexe.
In dem Moment vernahm er ein Geräusch. Es kam von einem Tier. Jakob war sich sicher, dass er es schon einmal gehört hatte. War das eine Rehgeiß, die ihr Kitz rief? Auch der Bär hatte das Geräusch gehört. Er hielt inne, ließ die Schnauze über Jakobs Nacken schweben und lauschte.
Das Geräusch hallte noch einmal durch den Wald. Der Ruf der Rehgeiß war jetzt drängender. Der Bär hob den Kopf. Langsam drehte er sich nach dem Laut um. Jakob blieb stocksteif liegen. Erst jetzt bemerkte er, dass er die letzten Sekunden über den Atem angehalten hatte. Vorsichtig sog er Luft ein.
Ein Ast knackte. Der Bär drehte den Oberkörper um. Zum dritten Mal stieß die Rehgeiß ihren Lockruf aus. Zögernd machte der Bär zwei Schritte in ihre Richtung. Dann verharrte er. Er sah zu Jakob, der regungslos auf dem Boden lag. Als der Ruf der Rehgeiß zum vierten Mal durch den Wald schallte, wandte sich der Bär von Jakob ab, lief gemächlichüber ein paar Erdhaufen, bis er schließlich im Laufschritt hinter mehreren Bäumen und Büschen verschwand.
Jakob wagte es noch immer nicht, sich zu rühren. Der Bär konnte jeden Moment zurückkommen. Außerdem war sich Jakob nicht sicher, ob er sich überhaupt bewegen konnte, selbst wenn er wollte. Seine Beine waren weich wie warmes Kerzenwachs, seine Arme spürte er kaum noch. Sein Kopf war schwer wie eine Kanonenkugel. Am liebsten wollte Jakob einfach liegen bleiben. Schlafen. Aufwachen. Und alles war nur ein Traum.
Auf einmal raschelte es dicht neben ihm und im selben Moment spürte er
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