Das Hexenkreuz
klammerte sich an
diesen Gedanken wie an eine warme Mahlzeit. Doch die Stunden verrannen und
niemand erschien. Was Emilia neben Kälte und Hunger am meisten zu schaffen
machte, war die absolute Stille um sie herum. Bald trauerte Emilia ihrem
Appartement in Sulmona hinterher. Dort hatte sie wenigstens Filomena zur
Gesellschaft gehabt. Was würde ihre Freundin zu ihrem Verschwinden sagen? Würde
sie sich von ihr hintergangen fühlen, da sie annehmen musste, sie wäre ohne sie
geflohen? Erschrocken fuhr sie auf, während ihre Hand zum Saum ihres Unterrocks
zuckte, dort, wo sich der kleine Behälter mit der Schatzkarte befand. Noch in
der Nacht hatte sie ihn dort eingenäht, um ihn bei der ersten Gelegenheit an
Emanuele weitergeben zu können. Mein Gott, dachte sie und ihr Herz kam völlig
aus dem Takt. Filomena würde womöglich denken, sie hätte die Karte gestohlen!
Was würde sie Emanuele erzählen? Sie beruhigte sich wieder. Ihr Bruder würde
niemals glauben, dass die Gier nach Gold sie zu einem Diebstahl getrieben
hätte. Aber sie musste unbedingt verhindern, dass die Karte Bramante in die
Hände fiel! Hoffentlich durchsuchte man sie nicht. Je länger sie in ihrer Zelle
ausharren musste, umso mehr quälende Gedanken sprangen Emilia aus der Leere an.
Ihre Zuversicht wich wie Luft aus einem Ballon und wurde durch
Niedergeschlagenheit ersetzt. Sie unterdrückte den immer häufiger
wiederkehrenden Impuls, schreiend gegen die verschlossene Tür zu hämmern.
Irgendwann, nach langen vergebenen Stunden des Wartens, fiel Emilias Kopf
erschöpft zur Seite. Sie rollte sich zusammen und schlief ein.
So traf Graf
Bramante sie an. Er winkte einen Diener mit einer Laterne heran. In ihrem
Schein betrachtete er lange die junge Frau. Der Graf liebte reine Schönheit
über alles. Ob bei einem Kunstwerk oder einer Frau, ihm kam es vor allem auf
die Vollkommenheit an. Und diese junge Frau war vollkommen. Er wusste es, denn
er hatte sie bereits in ihrer prachtvollen Nacktheit erblickt. Es gelüstete ihn
seither mit aller Macht danach, dieses Juwel zu besitzen.
„Was starrt
Ihr mich so an, als wäre ich ein knuspriger Braten?“
Völlig in
seine Gedanken eingesponnen, hatte Bramante nicht bemerkt, dass die junge Frau
inzwischen erwacht war und ihn unter ihren langen Wimpern hervor ihrerseits beobachtet
hatte.
„Habt Ihr
gut geschlafen, meine Teure?“, erkundigte sich der Graf im Plauderton, als
hätte er sie in einem Boudoir angetroffen und nicht in einem Verließ.
„Ihr
scherzt. Eure Gastfreundschaft lässt ebenso zu wünschen übrig wie Eure
Manieren.“ Emilia erhob sich. Zumindest versuchte sie es. Leider waren ihre
Glieder durch die Kälte und die unbequeme Lage so steif geworden, dass sie sich
kaum mehr bewegen konnte. Der Graf kniete neben sie und wollte ihr aufhelfen.
„Rührt mich
nicht an“, zischte sie.
„Wie Ihr
meint…“ Der Graf wandte sich an einen der beiden Diener in seiner Begleitung:
„Helft ihr.“
Der
Angesprochene, ein wahrer Koloss, nahm sie ohne weitere Umschweife auf seine
Arme und trug Emilia den gesamten Weg bis nach oben. Die junge Frau wehrte sich
nicht gegen ihn. Sein Körper verströmte einen säuerlichen Geruch nach Schweiß,
vermischt mit dem Rauch der Fackeln - vor allem aber umgab er sie mit
köstlicher Wärme. Er verfrachtete Emilia in ein Licht durchflutetes Zimmer im
Erdgeschoss, das direkt auf den Patio hinausging. Das vergoldete Bett lockte
mit schneeweißen Laken und seidenweichen Kissen. Bramante verabschiedete sich
mit der Bemerkung, dass er ihr gleich ihre Zofen schicken würde. Emilia nutzte
die kurze Zeitspanne des Alleinseins, um rasch ihren Saum aufzutrennen und die
kleine Rolle unter der Matratze zu verstecken. Später würde sie ein besseres
Versteck dafür finden. Es klopfte und eine streng blickende kräftige Matrone betrat
gemeinsam mit einem blutjungen Dienstmädchen das Zimmer. Sofort machten sie
sich daran, Emilia aus ihrer feuchten, zerknitterten Kleidung zu schälen.
Anschließend wickelten sie sie in ein weiches Handtuch und geleiteten sie durch
eine Verbindungstür nach nebenan. Emilia sah zunächst gar nichts, da der Raum
völlig in dampfende Schwaden getaucht war. Über allem schwebte der Geruch von
Schwefel. Der Nebel lichtete sich hier und da und sie sah leuchtend rote
Fresken aufblitzen, die auf sie wie Trugbilder aus einer anderen Welt wirkten.
Sie wurde einige Stufen hinab geführt und tauchte in köstlich heißes Wasser
ein. Emilia konnte fühlen, wie
Weitere Kostenlose Bücher